Gerd Müller-Volbehr, Europa und das Arbeitsrecht der Kirchen

(Dissertation Regensburg 1998; Prof. Richardi). Heidelberg 1999

Marcel Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK

(Dissertation Passau 2000; Prof. Schweitzer). Frankfurt am Main u. a. 2000

1. Müller-Volbehr geht in seiner Arbeit nach einer kurzen Skizzierung der verfassungsrechtlichen Sonderstellung der Kirchen in Deutschland auf die spezifischen Besonderheiten des kirchlichen gegenüber dem weltlichen Arbeitsrecht ein. Dabei verortet er das kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht im von Art. 4 I und II GG geschützten Kernbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes (S. 24). Dagegen beschränke sich der von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG erfaßte Menschenwürdegehalt auf den engen kultischen Bereich (S. 41). Nur inswoweit bestehe gem. Art. 23 I 3 GG eine Integrationsgrenze. Daher könnten grundsätzlich Kompetenzen der EG auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts auch mit Wirkung für die kirchlichen Arbeitsverhältnisse begründet werden. Ein effektiver Schutz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes kann daher nur auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts gewährleistet werden (S. 129). Ausgehend von der Solange II-Formel des BVerfG (BVerfGE 73, 339, 387), wonach der Vorrang des Gemeinschaftsrechts zur Disposition steht, wenn der europäische Grundrechtsschutz dem deutschen nicht im wesentlichen gleichwertig sei, untersucht Müller-Volbehr, inwieweit der Wesensgehalt des Art 4 GG das kirchliche Selbstbestimmungsrecht umfaßt. Dies bejaht er, soweit ein Eingriff gegen das Übermaßverbot verstößt (relative Theorie) (S. 48). Sollte daher der EuGH das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht als Bestandteil der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte anerkennen, könnte der Prüfungsvorbehalt des BVerfG gegenüber gemeinschaftsrechtlichern Rechtsakten aktiviert werden (S. 51).

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Es stellt sich daher die Frage, ob das deutsche kirchliche Selbstbestimmungsrecht Bestandteil der gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Religionsfreiheit sein kann. Diese Frage bildet den Kern der von Müller-Volbehr vorgelegten Arbeit. Hierzu werden zunächst die Entwicklung des durch die Rechtsprechung des EuGH vermittelten prätorischen Grundrechtsschutzes und die Auslegung von Art. 9 EMRK in Bezug auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht erörtert. Dabei stellt Müller-Volbehr zurecht fest, daß die Besonderheiten des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts gegenüber einem gemeinschaftrechtlichen Arbeitsrecht nicht durch einen Rückgriff auf Art. 9 EMRK gewahrt werden könne, da die EMRK lediglich ein gemeinsames Minimum grundrechtlichen Schutzes sichere (S. 73). Abzustellen ist daher auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art. 6 II EUV). Zur Bestimmung des Schutzniveaus schließt sich Müller-Volbehr der in der (deutschen) Literatur vorherrschenden Theorie der wertenden Rechtsvergleichung an (S. 83f). Danach ist der Schutzbereich extensiv, also nach dem Prinzip der Grundrechtsmaximierung zu ermitteln. Ausgehend von einer extensiven Auslegung des Schutzbereiches leitet sich daher nach Ansicht Müller-Volbehrs das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und damit auch das Dienst- und Arbeitsrecht unmittelbar aus der gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Religionsfreiheit ab (S. 86). Im Rahmen der Grundrechtsschranken seien dann Ziele und Strukturen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen. Ziel ist die Herstellung praktischer Konkordanz im Weg einer umfassenden Güterabwägung (S. 88). Müller-Volbehr geht sodann auf die Verpflichtung der EU zur Achtung der nationalen Identität gem. Art. 6 III EUV ein, welche er als Schranken-Schranke (S. 100) versteht.

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Danach umfaßt Art. 6 II EUV zwar das Selbstbestimmungsrecht im weitesten Sinne (Schutzbereich). Eingriffe sind aber zur Erreichung der Ziele und Strukturen des Gemeinschaftsrechts zulässig (Schranke). Wegen Art. 6 III EUV dürfen Eingriffe jedoch nur soweit gehen, wie dies das nationale Staatskirchenrecht zuläßt (Schranken-Schranke). Im Ergebnis zu Recht sieht er die (deutsche) staatskirchenrechtliche Ordnung als Teil der (deutschen) nationalen Identität. Daraus ergebe sich, daß der Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften einschließlich des aus dem Selbstbestimmungsrecht abgeleiteten kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts nicht zur Disposition der EG steht (S. 98). Dies gilt sowohl für unmittelbare wie für mittelbare Eingriffe. Art. 6 III EUV schütze das kirchliche Selbstbestimmungsrecht in Deutschland vor Rechtsakten der Gemeinschaft, soweit sie nicht die Eigenschaft eines für alle geltenden Gesetzes iSv Art. 140 GG iVm 137 III WRV hätten (S. 130).

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2. Vachek geht in seiner Arbeit zum europäischen Religionsrecht dagegen nur kurz auf den Schutz der nationalen Identität gem. Art. 6 III EUV ein. Recht knapp sind auch die Ausführungen zum Kulturartikel 151 EGV. Wie die Arbeit Müller-Volbehrs zeigt, können aber gerade diese zum Schutz des mitgliedstaatlichen Religionsrechts herangezogen werden. Zusammen mit dem auch von Seiten der Gemeinschaft zu beachtenden Prinzip der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EGV) ergibt sich hieraus m.E ein auch bei der Auslegung europäischen Rechts zu beachtendes Rücksichtnahmegebot (vgl. Nomok@non <www.nomokanon.de/ abhandlungen/ 004.htm). Das Prinzip der Gemeinschaftstreue wird von Vachek leider mit einem bloßen Hinweis abgetan (S. 275).

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Nach Ansicht Vacheks soll der Begriff der nationalen Identität gem. Art. 6 III EUV nur die verfassungsrechtlichen Fundamentalnormen (etwa iSd Art. 79 III GG) umfassen. Dies ergebe sich aus dem Verweis auf die Regierungssysteme der Mitgliedstaaten (S. 272). Dabei übersieht der Verfasser freilich, daß dieser Verweis anders als im alten Art. F I EUV (Maastricht) im neuen Art. 6 III EUV (Amsterdam) nicht mehr enthalten ist. Zudem bezweifelt der Verfasser, ob das Religionsrecht überhaupt zur nationalen Identität gezählt werden kann. Denn: "Wäre dies der Fall, brächte ein bloßer Wechsel im Religionsrecht den Verlust der bisherigen nationalen Identität mit sich" (S. 275). Andererseits ist es nicht Wesensmerkmal der Identität, daß sie unwandelbar ist. Änderungen im religionsrechtlichen System, wie sie etwa in den Niederlanden (1983) oder in Schweden (2000) erfolgt sind, können auch zu einem Wandel der Identität führen und nicht notwendigerweise zu ihrem Verlust. Auch sieht der Verfasser das Religionsrecht nicht als Bestandteil der kulturellen Erbes iSd Art. 151 EGV. Das Religionsrecht sei als aliud zur Kulturkompetenz des Art. 151 EGV zu verstehen (S. 147, 252f). Die Streichung des Bezugs zum kulturellen Erbe, wie er noch in den Entwürfen zur Amsterdamer Kirchenerklärung von 1997 vorgesehen war, sei daher mit Bedacht geschehen (S. 130). Demgegenüber soll der Kulturbegriff in Art. 87 Abs. III lit. d EGV (erlaubte staatliche Beihilfen) umfassend zu verstehen sein (S. 370). Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff der Kultur erfolgt jedoch nicht. So wurde der umfangreiche Aufsatz von Hochbaum zum Begriff der Kultur im Maastrichter und Amsterdamer Vertrag (Bayerische Verwaltungsblätter 1997, S. 641ff/ 680ff) nicht verwertet.

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Eine ausführliche Besprechung der Arbeit Vacheks zum europäischen Religionsrecht wird demnächst in der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR 2001, Heft 4) erscheinen.

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Matthias Triebel