Holger Kremser, Der Rechtsstatus der evangelischen Kirchen in der DDR und die neue Einheit der EKD 

(= Jus Ecclesiasticum 46). Tübingen: Mohr 1993. XXII, 284 S. Ln.

Die vorliegende Arbeit wurde zu einem Zeitpunkt begonnen, als die Wiedervereinigung Deutschlands und die Wiederherstellung der gesamtdeutschen Organisation der EKD von nicht wenigen Zeitgenossen als unmöglich oder als Ereignisse einer ungewissen, fernen Zukunft angesehen wurden (S. VII). Die Arbeit umfaßt vier Hauptteile (die Rolle der Religion im Marxismus-Leninismus, die verfassungsrechtliche Stellung der Kirchen und ihrer Mitglieder in der DDR-Verfassung, die geschichtliche Entwicklung der Evangelischen Kirchen in der SBZ/DDR und die historische Entwicklung ihrer Beziehungen zur SBZ/DDR) und einen Ausblick. Positiv beurteilt wird die Verfassung von 1949. Kremser häIt fest, daß in beiden deutschen Teilstaaten nach 1949 trotz unterschiedlicher Verfassungen in staatskirchenrechtlicher Hinsicht eine bemerkenswerte Kontinuität und Rechtssicherheit, zumindest den Verfassungstexten nach, herrschte. Die Rechtskontinuität wurde auf unterschiedlichen Wegen erreicht. Das Bonner Grundgesetz führte die Tradition des Staatskirchenrechts von Weimar im Wege der Inkorporation fort (vgl. Art. 140 GG), der Verfassungsgesetzgeber in der DDR erreichte dasselbe Ziel im Wege einer Rezeption (vgl. Art. 42-46 DDR-Verfassung 1949). Bereits im Jahre 1963 wurde aber Kritik an der DDR-Verfassung von 1949 laut. Die Verfassung von 1968 führte zum Bruch mit den in der DDR-Verfassung 1949 rezipierten staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung. Sie erwähnte die Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften und ihrer Mitglieder im sozialistischen Staat der DDR nur noch am Rande. Insofern paßte sie sich einerseits teilweise der Verfassungswirklichkeit an, da die SED-Staatsführung auch schon vor ihrem Inkrafttreten die aus der Korporationsqualität der Kirchen fließenden Rechte nicht mehr in der vollen Bandbreite anerkannte. Andererseits kann aus der Sicht der Kirchen durchaus positiv festgestellt werden, daß eine nicht geringe Palette der Vorrechte, die mit der Korporationsqualität der Kirchen verbunden werden, faktisch weiterbestand. Kremser spricht deswegen von den Kirchen als quasi-öffentlich-rechtlichen Körperschaften.

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Im Kapitel über die geschichtliche Entwicklung der Kirchen in der Zeit von der Sowjetischen Besatzungszone bis zum Ende der DDR kommen auch die rechtlichen Probleme um den Militärseelsorgevertrag zur Sprache und die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Über diese Frage konnte hier anhand des Gutachtens von Martin Heckel schon einmal berichtet werden (vgl. ThQ 171 [1991] 233-235). Die Vorgänge werden ausführlich dargestellt. Die DDR-Gliedkirchen wurden aus der EKD-Mitgliedschaft zu keiner Zeit entlassen. Nach der Rechtsauffassung des Kirchenbundes und seiner Gliedkirchen ist in der Kirchenbundgründung aber eine Dismembration von der EKD zu sehen. Folgt man dieser Rechtsüberzeugung, war eine bloße Reaktivierung einer ruhenden EKD-Mitgliedschaft durch die östlichen Gliedkirchen nicht möglich (S. 113). Pragmatisch hat man die Frage durch das "Kirchengesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Regelung von Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland" und das Vereinigungsgesetz des Kirchenbundes harmonisiert. Insofern ist die Vereinigung etwas anders ausgefallen, als damals in dem Gutachten von Heckel dargestellt. Nach § 6 S.1 des EKD-Vereinigungsgesetzes wurde die EKD Rechtsnachfolgerin des Kirchenbundes. - In weiteren Abschnitten werden die Evangelische Kirche der Union - Bereich der DDR, die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche (VELK) in der DDR und sonstige religiöse Gemeinschaften und Gruppen in der DDR behandelt (zu letzteren gehören die Freikirchen, die Landeskirchlichen Gemeinschaften, die kirchlichen Arbeitsgemeinschaften und Zusammenschlüsse und die Russisch-Orthodoxe Kirche). Interessant ist in dem Zusammenhang zu erfahren, daß in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der DDR (AgCK) der Kirchenbund und seine acht Gliedkirchen sowie die Evangelische Brüderunität (Distrikt Herrnhut), die Evangelisch-Methodistische Kirche in der DDR, der Bund Evangelischer Freikirchlicher Gemeinden in der DDR, die Evangelisch-Lutherische Kirche (altluth.), der Kirchenbund Evangelisch-Reformierter Gemeinden, der Bund freier evangelischer Gerneinden, der Gemeindeverband der Altkatholischen Kirche und die Mennonitengemeinden zusarnmenwirkten. Die Römisch-Katholische Kirche war als Beobachter vertreten, ebenso die Siebentagsadventisten. die Religiöse Gesellschaft der Freunde Apostelamt Jesu Christi und das Mitteleuropäische Exarchat der Russisch-Orthodoxen Kirche.

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Ein eigenes Kapitel ist der EntwickIung der Beziehungen der Evangelischen Kirche zur Sowjetischen Besatzungszone bzw. zur DDR gewidmet. Dazu zählen die Fragen um die SED-Kirchenpolitik nach der Gründung des Kirchenbundes, die Formel von der "Kirche im Sozialismus" und insbesondere das Spitzengespräch vom 6. März 1978 zwischen dem damaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und Vertretern des Kirchenbundes. Seit 1988 wurde die Formel von der "Kirche im Sozialismus" zunehmend in Frage gestellt (S. 205). Dies geschah vor dem Hintergrund eines vermehrten staatlichen Drucks und dem Versuch der SED-Staatsführung, den Wirkungsbereich der evangelischen Kirchen auf diakonische und geistliche Belange zu begrenzen. Doch ist das Verhältnis der östlichen evangelischen Kirchen zum DDR-Staat in der Zeit von 1969 bis 1989 im wesentlichen durch ein gegenseitiges Aufeinanderzugehen gekennzeichnet. Machten die evangelischen Kirchen Anfang der siebziger Jahre durch die Standortbeschreibung als "Kirche im Sozialismus" deutlich, daß sie die sozialistische Gesellschaftsordnung nicht in Frage stellten, sondern als Christen vielmehr in ihr mitwirken wollten, so wurde in dem Spitzengespräch von 1978 die positive Rolle der evangelischen Kirche in der DDR öffentlich anerkannt. In der Folgezeit konnte eine Reihe von Sachfragen im Sinne der Kirchen gelöst werden.

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In einem Ausblick. werden die Wiedervereinigung Deutschlands und die europäische Integration sowie die staatskirchenrechtliche Entwicklung in den neuen Ländern behandelt. Am Anfang steht die Formel Stolpes, daß das Grundgesetz im realpolitischen Sinne neu zu interpretieren sei. Kremser steht ihr kritisch gegenüber. An Einzelfragen der staatskirchenrechtlichen Entwicklung in den neuen Ländern werden genannt: die Einführung der Kirchensteuer, das Kirchensteuerrecht in den neuen Bundesländern, Religion als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen, wobei hier vor allem die Diskussion um die Bremer Klausel aufgegriffen wird. Kremser vertritt die Auffassung, daß die neuen Bundesländer (es sind, wie er richtig bemerkt, 5½ mit Ostberlin) staatsrechtlich nicht identisch mit den früheren SBZ-Ländern sind. Weitere Fragen stellen sich im Vertragskirchenrecht, insbesondere hinsichtlich der Geltung der Konkordate zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Heiligen Stuhl und der Verträge zwischen der EKD und der Bundesrepublik Deutschland. Kremsers Position ist, daß das Staatskirchenvertragsrecht, das vor der Teilung Deutschlands für ganz Deutschland galt, im Grunde genommen am 3. Oktober 1990 im Gebiet der neuen Bundesländer lediglich wiederauflebte (S. 241). Fraglich ist, ob auch die Länderkonkordate und die evangelischen Landeskirchenverträge, die die früheren Länder im östlichen Deutschland abgeschlossen haben, von den neuen Bundesländern zu beachten sind oder nicht. Kremser vertritt hier die Auffassung von der Universalsukzession. Weitere behandelte Bereiche sind die Anstaltsseelsorge, die Staatsleistungen (da auch die Kirchen in den neuen Bundesländern Säkularisationsopfer erbrachten, komme die Bestandsgarantie auch ihnen über Art. 3 Einigungsvertrag wieder voll zugute [S. 248]) und die Theologischen Fakultäten.

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Das Buch stellt einen weiteren Meilenstein in der Aufarbeitung der Geschichte von Kirche und Staat in der SBZ bzw. der DDR dar. Gegenstand ist das Verhältnis der Evangelischen Kirche zum Staat. Es ist wichtig, daß Kremser den Schlußteil über die neueste Entwicklung geschrieben hat, er ist als eine historische Bestandsaufnahme für die Zukunft von Bedeutung. Die Entwicklung ist inzwischen schon wieder weitergegangen. Mit Ausnahme von Brandenburg haben die neuen Bundesländer den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in ihren Verfassungen verankert. Auch hinsichtlich der Geltung von Reichskonkordat und Länderkonkordaten bzw. Evangelischen Kirchenverträgen läuft die heutige Praxis und Gesetzgebung darauf hinaus, daß zwar unterschiedliche Positionen vertreten werden, daß man aber von der Geltung ausgehen kann. De facto wird die Frage auf die Weise umschifft, daß heute mit den Evangelischen Kirchen und der Katholischen Kirche neue Verträge abgeschlossen werden, mit letzterer die Bistumsverträge und die wohl zeitlich folgenden Länderkonkordate.

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Das Werk ist jedem zu empfehlen, der sich mit der historischen Aufarbeitung des Verhältnisses von Kirche und Staat in der ehemaligen SBZ bzw. DDR und mit den Verfassungsproblemen um die Wiedervereinigung, soweit sie das Verhältnis von Kirche und Staat betreffen, befaßt.

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Richard Puza