Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11.12.2001, 1 BvF 1/96
Oder: Gibt es jetzt "ökumenische Kirchenverträge" mit Mitwirkung von Christgläubigen?
1. Der Beschluss |
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Das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - hat im Streit um den Religionsunterricht in Brandenburg den folgenden Vergleichsvorschlag den Parteien unterbreitet: |
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a. Ziel der Vereinbarung sollte es sein, durch eine Änderung des Brandenburgischen Schulgesetzes die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Antragsteller und Beschwerdeführer der genannten Verfahren Erklärungen abgeben, durch die Verfahren beendet werden können. Die Vereinbarung sollte zwischen den Antragstellern und Beschwerdeführern der anhängigen Verfahren auf der einen und der Landesregierung Brandenburg auf der anderen Seite geschlossen werden. Die Vereinbarungspartner sind dabei frei, über die Festlegung der Vereinbarungsthemen und deren für die Erreichung des Vereinbarungsziels notwendige inhaltliche Ausgestaltung selbst und anders zu entscheiden. |
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b. Antragsteller und Landesregierung greifen den Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts auf, über den Gegenstand der vorgenannten Verfassungsstreitverfahren eine einvernehmliche Verständigung herbeizuführen und damit die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Beteiligten verfahrensbeendende Erklärungen abgeben. Sie schließen deshalb die folgende Vereinbarung. |
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2. Die vorgeschlagene Vereinbarung |
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Die Regelungen über das Fach Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde in § 11 Abs. 2 bis 4 des Brandenburgischen Schulgesetzes bleiben unberührt. Außer dem Unterricht in diesem Fach kann Religionsunterricht gemäß § 9 Abs. 2 dieses Gesetzes in allen Schulformen und Schulstufen erteilt werden. Ergänzend werden für die beiden Unterrichtsfächer Regelungen entsprechend § 2 dieser Vereinbarung getroffen. |
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Die Landesregierung wird in den Landtag Brandenburg den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Brandenburgischen Schulgesetzes einbringen, der folgenden Inhalt haben wird: |
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Der Gesetzentwurf wird in den Landtag Brandenburg so rechtzeitig eingebracht, dass das Änderungsgesetz zum Beginn des Schuljahres 2002/2003 in Kraft treten kann. |
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Es ist Aufgabe einer Schiedsstelle, Meinungsverschiedenheiten über den Vollzug der Vorschriften des brandenburgischen Schulrechts über das Fach Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde und den Religionsunterricht auszuräumen. |
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Die Antragsteller werden binnen eines Monats nach dem In-Kraft-Treten eines dieser Vereinbarung entsprechenden Änderungsgesetzes den Normenkontrollantrag und die Verfassungsbeschwerden gegenüber dem Bundesverfassungsgericht zurücknehmen. |
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Eine Frist, sich gegenüber dem Bundesverfassungsgericht bis zum 31. Januar 2002 zu erklären, wurde gesetzt. |
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3. Kommentar |
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a. Damit hat das Bundesverfassungsgericht einen zwar schon länger angekündigten Weg beschritten, der aber gänzlich unüblich ist. Wahrscheinlich ist dies darauf zurückzuführen, dass die Entscheidung im Senat eine Parität (vier zu vier) ergeben hätte. Die nun angepeilte Lösung, mit der die Evangelische Kirche angeblich leben kann, nicht aber, wie es scheint, die Katholische Kirche, würde ein Novum darstellen, und zwar in zweifacher Hinsicht. 1. Würde, wenn die Kirchen und die übrigen Kläger, die Bundestagsabgeordneten und die Eltern, auf den Vergleichsvorschlag eingingen, nicht der Eindruck entstehen, dass hier ein neuer Typ von "Konkordatärer Vereinbarung" bzw. "Kirchenvertrag" entstünde, ein Vertrag, an dem nicht nur die Institutionen Staat und Kirche beteiligt sind, sondern zumindest auch ein Teil der Kirchenmitglieder bzw. Christgläubigen, womit gleichzeitig einem Postulat moderner Konkordatstheorie genüge getan würde, der Miteinbeziehung der Welt- bzw. Mitverantwortung aller Kirchenglieder an der Sendung der Kirche? 2. Von erheblich größerer Bedeutung ist aber die Analyse der Frage, ob das Modell des Verhältnisses von LER und Religionsunterricht, das hier vorgeschlagen wird, in den Rahmen bisheriger Verfassungsinterpretation passt oder nicht doch eine Weiterentwicklung, die durchaus auch positiv gesehen werden kann, ist. Dazu möchte ich auf fünf Modelle des Verhältnisses von LER und Religionsunterricht hinweisen, die m. E. denkbar sind: |
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b. Wenn wir davon ausgehen, dass sich das Verhältnis von Staat und Religion in der Bundesrepublik gewandelt hat bzw. in den fünf neuen Bundesländern das Grundgesetz eine andere, auch historisch anders gewachsene Situation vorfindet, so könnte man in Anlehnung an Ingo Richter1 vier Modelle feststellen, die diesem gewandelten Verhältnis von Staat und Religion im Unterricht Rechnung tragen könnten. Sie sind auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und ich möchte noch auf ein fünftes Modell hinweisen2 |
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aa. Das erste Modell besteht darin, dass die Kirchen die gesellschaftlichen Veränderungen in der Gestaltung des Religionsunterrichts aufnehmen und diesen entsprechend verändern. Wenn man davon ausgeht, dass nicht der Staat, sondern die Religionsgemeinschaften bestimmen, was Religionsunterricht ist, könnten die Kirchen LER im Sinne des Grundgesetzes als Religionsunterricht anerkennen. |
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bb. Das zweite Modell wäre das Modell, das gerade jetzt durch das neue Brandenburgische Schulgesetz eingesetzt wurde. LER als Unterrichtsfach ist Pflichtfach. Es besteht zwar Abmeldemöglichkeit, die Veranstaltung des Religionsunterrichtes ist aber eigentlich keine Veranstaltung der Schule. Es besteht keine echte Wahlmöglichkeit zwischen LER und Religionsunterricht. Dieses Modell kann sich nur dann durchsetzen, wenn Artikel 141 Grundgesetz, die Bremer Klausel, für Brandenburg heute anwendbar ist. Soviel man hört, beruft sich das Land Brandenburg auch primär auf diese Klausel. Ein rein kirchlicher Religionsunterricht außerhalb der Schule ist nach Art. 7, Abs. 3 Grundgesetz unzulässig, wenn die Voraussetzungen des Artikel 141 Grundgesetz nicht gegeben sind. |
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cc. In der Endphase der Diskussion um LER wurde von den Kirchen in verstärktem Maß das Wahlmodell in den Vordergrund gestellt. Dieses Modell nimmt die gesellschaftlichen Veränderungen auf, indem es durch den staatlichen Unterricht LER den Tendenzen zur Säkularisierung und Pluralisierung entspricht, jedoch aus Gründen der Lebenswelt Integration und Fundamentalisierung sowie der Individualisierung den kirchlich verantworteten Religions unterricht erhält. Dieses Wahlmodell stellt schon einen Kompromiss und eine Neuinterpretation der Verfassung dar, weil das Grundgesetz dem Religionsunterricht als Regel und die Abmeldung als Ausnahme vorschreibt. |
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dd. Richter nennt als viertes Modell jenes, indem LER und Religionsunterricht nicht alternativ zur Wahl angeboten werden, sondern wenn die Werteerziehung im Unterricht Pflichtfach und Religionsunterricht nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz ordentliches Lehrfach ist. Dann entsteht eine Kumulation von staatlicher Werterziehung und kirchlich verantwortetem Religionsunterricht, der die Eltern bzw. Schüler allerdings durch die Abmeldung vom Religionsunterricht ausweichen können. |
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ee. Ein fünftes Modell scheint sich aus einer Broschüre des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg3 "Das Brandenburgische Schulgesetz, was steckt dahinter ... Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde" zu ergeben, wenn es dort heißt: "der bekenntnisgebundene Religionsunterricht kann sicher als sinnvolle Ergänzung zum Unterricht in LER erlebt werden". Dieses Modell scheint mir mit der Verfassung nicht vereinbar zu sein. Es ist allerdings auch den durchführenden Verwaltungsvorschriften nicht so zu entnehmen. |
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Unter all diesen Modellen scheint sich aufgrund einer verfassungsrechtlichen Beurteilung nur das zweite und dritte Modell verwirklichen zu lassen. Was das erste Modell betrifft, ist der Zug ja bereits abgefahren. Es kann nur ein Ansporn sein, die Veränderungen im Verhältnis von Kirche und Staat in den Religionsunterricht einzubeziehen. Das dritte Modell der Wahlmöglichkeiten scheint die verfassungsrechtlich sauberste Lösung zu sein. Man wird sehen, wieweit es sich auch auf die alten Bundesländer auswirken wird. Aber auch das zweite Modell ist verfassungsrechtlich möglich, wenn Art. 141 GG anwendbar ist. Die Verwaltungsvorschriften deuten an, dass eine Verbesserung des Status des konfessionellen Religionsunterrichtes in diesem Modell im Bereich des Möglichen liegt. |
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Schließlich sei noch darauf verwiesen, dass der LER kein religiös gebundener Unterricht sein kann. Dazu zwingt die religiöse Neutralität des Staates. Der Staat kann nicht im staatlichen religionskundlichen Pflichtunterricht Religion umfunktionieren oder grundsätzlich abwerten (Nipkow). Nach Abschaffung des Staatskirchentums hat unser Staat "im System der Trennung, Religionsfreiheit und kirchlichen Eigenständigkeitsgarantie (Art. 140 GG / 137 I, III WRV) kein ius reformandi mehr - weder im Sinne einer atheistischen Staatsideologie, noch im Sinne der katholischen noch der evangelischen noch einer dritten (ökumenischen) Zukunftskonfession" (Martin Heckel). LER darf also nicht zu einem religiös getönten Weltanschauungsunterricht werden. |
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Richard Puza
1 Dokumentation: Religionsunterricht und LER in Brandenburg, hrsg. von der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Dezernat Erziehung in der Schule, 1995/96.
2 S. dazu Richard Puza, Das in Brandenburg eingeführte Unterrichtsfach Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde und der konfessionelle Religionsunterricht. In: Albert Biesinger, Joachim Hänle (Hg.), Gott - mehr als Ethik? Der Streit um LER und Religionsunterricht (= Quaestiones disputatae 167). Freiburg i. Br. 1997. 147-163.
3 "Das brandenburgische Schulgesetz - was steckt dahinter ..." hier: "Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde. Das neue Unterrichtsfach an den Schulen des Landes Brandenburg ab dem Schuljahr 1996/97", herausgegeben vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (1. Auflage August 1996).