Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2000, Az. 2 BvR 1500/97

1. Das Urteil

Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von grundsätzlicher Bedeutung erging zur Frage, unter welchen Voraussetzungen, welchen Kriterien, einer Kirche, Religionsgemeinschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft der Status einer Körperschaft öffentlichen Rechtes verliehen werden kann. Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes (BverfG) hat auf Grund der Verfassungsbeschwerde der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 26. Juni 1997 aufgehoben und die Sache an dasselbe zurückverwiesen. Durch die Entscheidung des BVerwG sei die Beschwerdeführerin in ihrem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV verletzt. Diese Normen bestimmen, unter welchen Voraussetzungen eine Religionsgemeinschaft Anspruch auf die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes hat.

1

2. Die Kriterien zur Erlangung einer Körperschaft öffentlichen Rechtes

a. Die Gewähr der Dauer: Hierzu ist es nicht erforderlich, dass eine Religionsgemeinschaft sich zunächst in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins bewährt hat. Auch der Glaube an ein bevorstehendes Ende der Welt steht dieser Dauerhaftigkeit nicht entgegen. Es verbietet sich nämlich dem religiös neutralen Staat, die Beschwerdeführerin hinsichtlich ihrer religiösen Vorstellungen gleichsam beim Wort zu nehmen. Im Übrigen hat bereits einige Male ein von der Beschwerdeführerin vorhergesagter Weltuntergang nicht stattgefunden, die Religionsgemeinschaft aber weiter Bestand. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist daher ihre Dauerhaftigkeit nicht zu bezweifeln.

2

b. Weitere Voraussetzungen: Aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV ergeben sich des Weiteren ungeschriebene Voraussetzungen, die eine Religionsgemeinschaft erfüllen muss, um den Körperschaftsstatus erlangen zu können. Im Kontext des GG ist der den Religionsgemeinschaften angebotene Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit. Er soll die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften unterstützen. Dass diese ihre Tätigkeit frei von staatlicher Bevormundung und Einflussnahme entfalten können, schafft die Voraussetzung und den Rahmen, in dem die Religionsgemeinschaften das Ihre zu den Grundlagen von Staat und Gesellschaft beitragen können. Die korporierten Religionsgemeinschaften unterscheiden sich im religiös-weltanschaulich neutralen Staat des GG, der keine Staatskirche kennt, grundlegend von den Körperschaften des öffentlichen Rechts im verwaltungs- und staatsorganisationsrechtlichen Verständnis. Sie nehmen keine Staatsaufgaben wahr, sind nicht in die Staatsorganisation eingebunden und unterliegen keiner staatlichen Aufsicht. Ihnen werden aber mit dem Körperschaftsstatus bestimmte hoheitliche Befugnisse übertragen. Diese und andere Vergünstigungen erleichtern es der Religionsgemeinschaft, ihre Organisation und ihr Wirken nach den Grundsätzen ihres religiösen Selbstverständnisses zu gestalten. Die Vergünstigungen bewirken mit erhöhten Einflussmöglichkeiten aber auch die erhöhte Gefahr eines Missbrauchs zum Nachteil der Religionsfreiheit der Mitglieder oder anderer Verfassungsgüter. Bei der Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen eine Religionsgemeinschaft den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen kann, muss deswegen auch die Verantwortung des Staates zur Geltung gebracht werden, dem das GG die Achtung und den Schutz der Menschenwürde aufgibt und den es zur Wahrung und zum Schutz der Grundwerte der Verfassung verpflichtet.

3

aa. Rechtstreue. Daraus folgt zum einen, dass eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, rechtstreu sein muss. Innerhalb wie außerhalb des Bereichs hoheitlichen Handelns hat sie die staatsbürgerliche Pflicht zur Beachtung der Gesetze. Allerdings stellt nicht jeder einzelne Verstoß gegen Rechtsnormen die Gewähr rechtstreuen Verhaltens in Frage. Auch den korporierten Religionsgemeinschaften ist es unbenommen, Meinungsverschiedenheiten mit staatlichen Behörden darüber, wo im Einzelfall die der Religionsfreiheit und dem religiösen Selbstbestimmungsrecht durch das Gesetz gezogene Grenze verläuft, durch die Gerichte klären zu lassen. Viele Religionen erheben im Einzelfall einen Vorbehalt zugunsten ihrer Gewissensentscheidung und bestehen darauf, im unausweichlichen Konfliktfall den Glaubensgeboten mehr zu gehorchen als den Geboten des Rechts. Aus Rücksicht auf die Religionsfreiheit, der der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts letztlich dient, stehen solche Vorbehalte der Verleihung dieses Status jedenfalls solange nicht im Wege, als die Religionsgemeinschaft im Grundsatz bereit ist, Recht und Gesetz zu achten und sich in die verfassungsmäßige Ordnung einzufügen.

4

bb. Respektierung fundamentaler Verfassungsprinzipien. Eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, muss ferner die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die staatlichem Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des GG nicht gefährdet. Eine systematische Beeinträchtigung oder Gefährdung der Grundsätze, die das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 GG jeglicher Änderung entzogen hat, darf der Staat von Seiten einer als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaft nicht hinnehmen. Dazu gehören die Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie. An die einzelnen Grundrechte sind die korporierten Religionsgemeinschaften - außer in Ausübung hoheitlicher Befugnisse - zwar nicht unmittelbar gebunden. Der Staat darf aber einen Status, der besondere Machtmittel und einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft vermittelt, nicht an eine Religionsgemeinschaft verleihen, gegen die einzuschreiten er zum Schutz grundrechtlicher Rechtsgüter berechtigt oder gar verpflichtet wäre. So verpflichtet ihn das Grundgesetz, menschliches Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen. Kinder können staatlichen Schutz ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG beanspruchen; dabei bildet das Kindeswohl den Richtpunkt für den staatlichen Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fordert vom Staat, jeden Einzelnen und religiöse Gemeinschaften vor Angriffen und Behinderungen zu schützen. Ebenso darf das Verhalten solcher Religionsgemeinschaften, die mit einem bevorzugten Status ausgestattet sind, die Freiheitlichkeit des Staatskirchenrechts nicht beeinträchtigen oder gefährden. Das Verbot einer Staatskirche und die Prinzipien von Neutralität und Parität müssen unangetastet bleiben. Andererseits dürfen die rechtlichen Anforderungen an eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, nicht ihrerseits in Widerspruch zu den prinzipiellen Wertungen des verfassungsrechtlichen Religions- und Staatskirchenrechts geraten. Wegen des Grundsatzes der religiös- weltanschaulichen Neutralität darf der Staat eine antragstellende Religionsgemeinschaft nicht nach ihrem Glauben, sondern nur nach ihrem Verhalten beurteilen. Zudem sind die in Art. 20 GG niedergelegten Grundprinzipien und die Grundsätze des Religions- und Staatskirchenrechts Strukturvorgaben staatlicher Ordnung, die nur als solche Schutz verdienen. Aus ihnen kann nicht gefolgert werden, die Binnenstruktur einer Religionsgemeinschaft müsse z. B. demokratisch organisiert sein. Auch der als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaft bleibt es zudem unbenommen, ihr Verhältnis zu anderen Religionen nach ihrem eigenen Selbstverständnis zu gestalten, solange sie den verfassungsrechtlichen Ordnungsrahmen nicht beeinträchtigt. Letzteres wäre etwa der Fall, wenn sie auf die Verwirklichung einer theokratischen Herrschaftsordnung hinwirkte. Eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat kann nicht verlangt werden. Die korporierten Religionsgemeinschaften brauchen ihr Wirken nicht an den Interessen und Zielen des Staates auszurichten, weil die Religionsfreiheit es ihnen überlässt, wie sie den ihnen eröffneten Freiheitsraum ausfüllen. Außerdem ist "Loyalität" ein vager Begriff, der auch auf eine innere Disposition und nicht nur auf ein äußeres Verhalten zielt. Gleichermaßen kann es unter dem GG nicht Ziel einer Verleihung des Körperschaftsstatus sein, eine Religionsgemeinschaft durch Privilegien zur Kooperation mit dem Staat anzuhalten. Das GG ermöglicht eine Zusammenarbeit der Religionsgemeinschaften mit dem Staat, macht sie aber nicht zur Bedingung. Insgesamt setzt die Prüfung, ob eine Religionsgemeinschaft die Gewähr dazu bietet, die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des Religions- und Staatskirchenrechts nicht zu beeinträchtigen oder zu gefährden, eine komplexe Prognose voraus. Hier ist den Fachgerichten eine typisierende Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung aller derjenigen Umstände aufgegeben, die für die Entscheidung über den Körperschaftsstatus von Bedeutung sind.

5

3. Die Anwendung dieser Kriterien auf die Zeugen Jehovas

Der Körperschaftsstatus darf den Zeugen Jehovas nicht schon wegen ihrer grundsätzlichen Haltung zum Staat versagt werden, auch wenn diese in ihren religiösen Lehren den Staat als "Bestandteil der Welt Satans" ansehen. Sie akzeptieren nämlich in ihrem tatsächlichen Verhalten den Staat als "von Gott geduldete Übergangsordnung". Auch das religiöse Verbot der Teilnahme an staatlichen Wahlen rechtfertigt die Versagung des Körperschaftsstatus nicht. Das Demokratieprinzip als solches wird dadurch nicht angegriffen, weil die Demokratie nicht durch eine andere Staatsform ersetz werden soll. Die Bestrebungen sind apolitisch, sie richten sich auf ein Leben jenseits des politischen Gemeinwesens. Deshalb ist ihr Verhalten gegenüber staatlichen Wahlen ein Gesichtspunkt, der zwar bei der gebotenen typisierenden Gesamtbetrachtung Berücksichtigung finden kann. Er trägt aber für sich allein die Annahme einer Gefährdung der unantastbaren Gehalte des Demokratieprinzips nicht.

6

4. Kommentar

Die Zeugen Jehovas haben mit diesem Urteil keinen vollständigen Erfolg errungen, weil das Bundesverwaltungsgericht nun prüfen muss, ob die Grundrechte anderer durch die Zeugen Jehovas gefährdet sind, was gegen eine Anerkennung sprechen würde. Konkret geht es dabei um die Ablehnung von Bluttransfusionen auch für Kinder und um Zwangsmaßnahmen der Zeugen Jehovas gegenüber Austrittswilligen. Das Land Berlin hat bekräftigt, den Zeugen Jehovas auch weiterhin keinen Körperschaftsstatus zuerkennen zu wollen. Das Urteil ist von allgemeiner Bedeutung für alle Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften, die den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts anstreben.

7

Richard Puza