Libero Gerosa, Ludger Müller, Kirche ohne Recht? Stand und Aufgaben der Kirchenrechtswissenschaft heute

Kircherecht im Dialog, Heft 3, Paderborn 2003, 63 S., 8,90 EUR

Der hier vorzustellende dritte Band der Reihe Kirchenrecht im Dialog bildet die Fortsetzung einer Reihe von Gesprächen, welche Fachvertreter der Kircherechtswissenschaft seit dem Jahr 1998 in loser Folge begonnen haben. Die Zielsetzung der Reihe besteht darin, sich dabei nicht in Einzelfragen zu verlieren, sondern Fragen von grundsätzlicher Bedeutung in populärwissenschaftlicher Form einem breiteren, interessierten Publikum vorzustellen.

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Der Kernfrage: Kirche ohne Recht?, wenden sich Prof. Dr. Libero Gerosa (Lugano) und Prof. Dr. Ludger Müller (Wien), in sechs Schritten zu. Der erste Schritt dient Bestandsaufnahme, worin die Krise des kanonischen Rechts besteht, welche die beiden Schüler von Klaus Mörsdorf (München) für das gegenwärtige Leben der katholischen Kirche in Deutschland diagnostizieren. Sie kommen zu dem Schluss, dass es sich nicht um eine Krise des Rechts selbst, sondern um eine Krise der Befolgung des Rechts handelt. Die Ursachen dafür sind vielschichtig. Sie liegen nicht nur auf der Ebene der Rezeption durch die Gläubigen sondern auch auf der Ebene der Gesetzgebung. Das wird am Beispiel der sog. Laieninstruktion illustriert. Ein Weg aus der Krise eröffne sich, wenn sich alle, die das Recht betrifft, an dem novus habitus mentis orientieren, der vom Konzil vorgegeben worden ist. In einem zweiten Schritt befassen sich die beiden Gesprächspartner mit den Zusammenhang von Kirchenrecht und Glaube. Es ist das Anliegen der beiden, hier den notwendigen Zusammenhang zwischen Kirchenrecht und Theologie hervorzuheben. In einem dritten Schritt schließt sich ein leidenschaftliches Plädoyer dafür an, die Kirchenrechtswissenschaft in den theologischen Fakultäten beizubehalten, weil das Kirchenrecht einen unverzichtbaren Teil der Theologie darstellt. Diese Unverzichtbarkeit verdeutlichen die Autoren in ihrem nächsten Diskussionsschritt im Zuge der Darstellung des Zusammenhangs von Glaubensgemeinschaft und Rechtsordnung. Recht und Gemeinschaft beschreiben nicht zwei Gegensätze, sondern  müssen als zwei Elemente verstanden werden, die auf der Ebene der Verfassungsstruktur der Kirche nicht voneinander zu trennen sind. Dabei geht es darum, Charisma und Amt als zwei konstitutionelle Elemente der Kirche hervorzuheben. Diese beiden stehen im Dialog miteinander. Die Notwendigkeit Dialoges illustrieren Gerosa und Müller im nächsten Schritt ihres Gesprächs unter der Überschrift: Rechtsbegriff. Sie sprechen sich dafür aus, im Hinblick auf die Vielfalt der Rechtsordnungen innerhalb und außerhalb der Kirche, den Rechtsbegriff des kirchlichen Rechts im Wege der Kommunikation zwischen den verschiedenen kirchlichen Rechtsordnungen zu definieren. Bei der Bildung von Kirchenrecht ist das Prinzip der Mehrstufigkeit der kirchlichen Rechtsordnung zu berücksichtigen. Mit den soeben skizzierten Schritten zeigen die beiden Kirchenrechtler, einen Weg auf, wie es der Kirchenrechtswissenschaft in Zukunft gelingen könnte, aus der diagnostizierten Krise herauszukommen. Wenn das gelänge, ergäbe sich aus diesem dialogischen Geschehen evt. auch eine neue, breitere Akzeptanz für das Recht. Unter Hinweis auf die Unverzichtbarkeit vorpositiver Normen (ius divinum) müsse das Kirchenrecht sich von einem rein etatistisch-positivistischen Denken verabschieden.

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Diese Schlussfolgerung kann man nur unterstützen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die beiden Gesprächspartner hier nicht die beiden Ebenen von Kirchenrechtswissenschaft und Gesetzgebung zu eng miteinander verbunden haben. Die vorgenommene Diagnose mag ja in mancherlei Hinsicht für die Normsetzung einzelner römischer Dikasterien zutreffen. Aber die Verallgemeinerung erscheint mir verkürzend. Der kirchliche Gesetzgeber hat sich auch seit 1983 immer wieder darum bemüht, die Verankerung seiner Normsetzung im überpositiven Recht deutlich zu machen. In der Kirchenrechtswissenschaft ist es im deutschen Sprachraum ein Verdienst der Münchner Schule, auf den Zusammenhang von Theologie und Recht nachdrücklich hinzuweisen. Insgesamt handelt es sich um ein lesenswertes Bändchen, das auch und gerade interdisziplinär interessierten Nichtkanonisten einen Einblick in die aktuelle systemtheoretische Diskussion im Kircherecht gewährt, ohne dass sich Gerosa und Müller in Fachsimpelei verlieren.

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Matthias Pulte