Europa und die Kirchen*

Von Matthias Triebel

 

Online-Version: 7. September 1999.

 

Inhalt

  1. Die Amsterdamer Kirchenerklärung
  2. Das Verhältnis von Staat und Kirche in den Mitgliedsstaaten der EU
  3. Gemeinsamkeiten
  4. Die staatskirchenrechtlichen Modelle als Ausdruck der nationalen Identität
  5. Der Schutz der Religionsfreiheit im europäischen Recht
  6. Zusammenfassung
  7. Literaturhinweise
 

Das heutige Europa basiert auf dem Christentum als gemeinsamer Wurzel. "Ohne das Erbe des Christentums und dessen Präsenz in Gestalt der Kirchen ist Europa nicht zu denken."1

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Der Schlußakte des Amsterdamer Vertrages vom 2.10.1997, der am 1.5.1999 in Kraft trat, wurde nun unter anderem auch folgende von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union angenommene "Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften" angefügt:

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"Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise."

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I. Die Amsterdamer Kirchenerklärung

Die Erklärung geht auf eine gemeinsame Initiative der deutschen Kirchen (EKD und Deutsche Bischofskonferenz) zurück, die von der Bundesregierung unterstützt wurde. Auf europäischer Ebene waren die jeweiligen Zusammenschlüsse EECCS (European Ecumenical Commission for Church and Society) und COMECE (Commission des Épiscopats de la Communauté Européene) beteiligt.2 Zwar wurde das ursprüngliche Ziel einer Kirchenklausel im Vertragstext selbst nicht erreicht, dennoch wird die Annahme der Kirchenerklärung in der Schlußakte des Amsterdamer Vertrages als Erfolg gewertet. Vor allem wird betont, daß die Kirchen nun zum ersten Mal ausdrücklich im Rahmen eines Vertrages der EU verankert und als Rechtssubjekte mit eigenem Status auch im Hinblick auf Maßnahmen der EU anerkannt seien. Die Europäische Union zeige damit ein wachsendes Verständnis dafür, daß Religionsgemeinschaften auch im Recht der EU Achtung verdienten.3

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Da der Religionsausübung stets auch eine öffentliche Bedeutung zukommt, ist es für die Europäische Union eine zukunftsrelevante Frage, wie sie mit Religion und Religionsgemeinschaften umgeht. Es ist daher bedeutsam, auch auf europäischer Ebene ein den besonderen europarechtlichen Gegebenheiten angepaßtes Religionsrecht zu entwickeln. Bislang hatten aber weder die Kirchen noch andere Religionsgemeinschaften Erwähnung in den Verträgen der Europäischen Union gefunden. In dieser konstitutionellen Blindheit der EU in Hinsicht auf die Religion ihrer Bürger sahen viele eine - wenngleich ungewollte - Diskriminierung des Religiösen und damit der Religionsgemeinschaften.4 Dieser Makel wurde nun durch die sog. Amsterdamer Kirchenerklärung behoben.

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Ein solches europäisches Religionsrecht darf freilich nicht ausschließlich auf die christlichen Kirchen fixiert sein, es muß einen Rahmen für alle Religionsgemeinschaften bieten können. Insbesondere die zunehmende Bedeutung des Islam ist dabei zu beachten. In Frankreich ist der Islam mit über 3 Mio. Moslems bereits die zweitgrößte Religionsgemeinschaft, in Deutschland steht er mit etwa 2,5 Mio. Gläubigen an dritter Stelle.

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Die Amsterdamer Kirchenerklärung ist ein wichtiger Schritt für ein solches europäisches Religionsrecht. Unklarheit herrscht aber über den rechtlichen Stellenwert der Erklärung.5 Bezüglich der Rechtsverbindlichkeit von Vertragszusätzen ist dabei zwischen Protokollen und Erklärungen zu unterscheiden. Protokolle sind Vertragsbestandteil und haben daher dieselbe rechtliche Verbindlichkeit und denselben rechtlichen Charakter wie die Verträge selbst (Artikel 311 EG-Vertrag). Erklärungen haben demgegenüber keine rechtliche, sondern lediglich politische Bedeutung. Freilich gehören Erklärungen zum Vertragsumfeld und sind daher bei der Auslegung der Verträge zu berücksichtigen (Artikel 31 Abs. 2 Wiener Vertragsrechts-Konvention). Erklärungen können auch insoweit rechtlich relevant sein, als sich die Europäische Union dadurch selbst bindet.

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Die Bedeutung der Amsterdamer Kirchenerklärung für die Kirchen soll im folgenden näher beleuchtet werden.

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II. Das Verhältnis von Staat und Kirche in den Mitgliedstaaten der EU

Auf nationaler Ebene hat sich in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) das Verhältnis von Staat und Kirche unterschiedlich entwickelt. Wie kaum ein anderes Rechtsgebiet ist das Staatskirchenrecht daher tief mit der nationalen Geschichte und Identität eines Volkes verbunden. Die verschiedenen staatskirchenrechtlichen Systeme werden üblicherweise in drei Typen unterteilen: das staatskirchliche, das Trennungs- und das Kooperationsmodell.6

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  • Staatskirchen finden sich in den nordischen Staaten (Dänemark, Finnland, Schweden), sowie in Großbritannien (England und Schottland) und Griechenland. Dieses System zeichnet sich vor allem durch eine institutionelle Verbindung zwischen Staat und Kirche aus. In den nordischen Staaten ist die lutherische Kirche, in Finnland außerdem noch die griechisch-orthodoxe Kirche Staatskirche. In Großbritannien ist die Lage etwas komplizierter: Während die Church of England die anglikanische Kirche ist - mit der britischen Königin als Oberhaupt -, ist die Church of Scottland die presbyterianische Kirche. In den anderen Teilen Großbritanniens gibt es dagegen keine Staatskirche. In Wales wurden die anglikanischen Diözesen 1920 entstaatlicht, in Irland erfolgte dies bereits 1871. In Griechenland schließlich ist die griechisch-orthodoxe Kirche die "vorherrschende Religion". Vor allem in Skandinavien sind Entwicklungen zur Entstaatlichung jedoch deutlich sichtbar. So soll in Schweden zum 1.1.2000 das Staatskirchentum beendet werden. In Folge des zweiten Vatikanischen Konzils verlor die katholische Kirche ihre Stellung als Staatsreligion in Italien (1984) und Spanien (1979).

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  • Eine Trennung von Staat und Kirche findet sich seit 1905 in Frankreich (mit Ausnahme der drei östlichen Departements, nämlich Elsaß-Lothringen, die erst 1918 wieder an Frankreich fielen) und seit 1983 auch in den Niederlanden. Formal bestehen außerdem in Irland und Portugal Trennungssysteme. Trennung schließt notwendige Kooperation jedoch nicht aus. So ist auch die laicité in Frankreich eher eine Form positiver Neutralität.

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  • In der EU am verbreitetsten sind schließlich verschiedene Kooperationsmodelle. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß bei grundsätzlicher staatlicher Neutralität den Kirchen ein besonderer Status zugebilligt wird. Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche werden dabei im wesentlichen durch Konkordate und Kirchenverträge geregelt. Neben Deutschland sind hier Belgien, Spanien, Italien, Luxemburg und Österreich sowie Elsaß-Lothringen zu nennen.

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Eine solche Typisierung ist freilich immer problematisch, da sie die Eigentümlichkeiten der auch innerhalb eines Typs sehr unterschiedlichen staatskirchenrechtlichen Systeme nicht erfassen kann. Daher wird vorgeschlagen, die obigen drei Typen um ein viertes Modell zu ergänzen: das Modell der traditionellen Gewichtung.7 In vielen Staaten spielt nämlich eine Kirche traditionell eine herausragende Rolle unabhängig vom jeweiligen staatskirchenrechtlichen Modell, so etwa die katholische Kirche in Irland, Spanien, Italien oder Portugal. Oftmals schlägt sich das auch in der Verfassung nieder, so wird in den Verfassungen Italiens, Spaniens und Irlands (bis 1972) die katholische Kirche ausdrücklich erwähnt.

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III. Gemeinsamkeiten

Bei allen Unterschieden sind den genannten Modellen doch auch drei Merkmale gemeinsam.8

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  • Der Staat ist den einzelnen Angehörigen der verschiedenen Religionen gegenüber zur Neutralität verpflichtet. Das Recht auf freie Religionsausübung wird durch das nationale Verfassungsrecht gewährleistet. Diskriminierung aus religiösen Gründen ist unzulässig. Ein entsprechendes Diskriminierungsverbot wurde nun durch den Amsterdamer Vertrag auch in den EG-Vertrag eingefügt (Artikel 13 EG-Vertrag).

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  • Neben der individuellen Religionsfreiheit ist auch die kollektive Religionsfreiheit in allen Mitgliedstaaten der EU geschützt. Das heißt, der Staat ist nicht für das Seelenheil seiner Bürger verantwortlich. Der religiöse Unterbereich der öffentlichen Sphäre ist den Religionsgemeinschaften überlassen. In allen Mitgliedstaaten wird daher auch das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften grundsätzlich anerkannt und umfaßt vor allem das Recht, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu ordnen. Die inhaltliche Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechtes ist freilich von Land zu Land sehr unterschiedlich - insbesondere bezüglich der Frage, was zu den inneren Angelegenheiten zählt.

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  • Der Staat steckt also den Rahmen sowohl für die individuelle als auch für die kollektive Religionsfreiheit ab. Das Eingriffsrecht des Staates in bezug auf religiöse Belange ist freilich - als dritte Gemeinsamkeit - eingeschränkt. In Deutschland ist dies etwa nur möglich zum Schutz kollidierender Grundrechte Dritter.

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Die oben dargestellten Modelle reichen von einer wohlwollenden Trennung bis zu einer mehr oder weniger engen Zusammenarbeit. Letztlich aber bewegen sie sich doch innerhalb eines ziemlich engen Rahmens. Aus verschiedenen Richtungen entwickeln sie sich - in unterschiedlichem Maße - auf eine gemeinsame Mitte hin.9 Angesichts der gezeigten strukturellen Gemeinsamkeiten erscheinen die dargestellten Modelle daher auch eher wie die Spielarten ein und desselben Modells denn als grundsätzlich verschiedene Modelle. Die eigentlichen Unterschiede in den einzelnen Mitgliedstaaten manifestieren sich jenseits dieser grundlegenden Gemeinsamkeiten erst auf einer zweiten Ebene.10

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IV. Die staatskirchenrechtlichen Modelle als Ausdruck der nationalen Identität

Die Amsterdamer Kirchenerklärung lehnt sich inhaltlich an Artikel 6 Absatz 3 des Vertrages von Maastricht von 1992 an. Darin verpflichtet sich die Europäische Union, die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten zu achten. Dies wird durch die Präambel des Maastricht-Vertrages konkretisiert. Danach besteht eine Verpflichtung der EU zur Achtung der Geschichte, Kultur und Tradition der Völker Europas. Unter den Schutz der nationalen Identität fallen somit insbesondere die historisch gewachsenen Besonderheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten.11

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Eine besondere Ausprägung erfährt die Wahrung der nationalen Identität im Bereich der europäischen Kulturpolitik. Hier ist die EU zur Wahrung und Förderung der nationalen, aber auch der regionalen Vielfalt bei gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes verpflichtet (Artikel 151 EG-Vertrag). Europäische Kulturpolitik bedeutet daher primär "Übersetzungspolitik". Der Grundsatz der Wahrung der nationalen Identität ist mit diesem Prinzip der kulturellen Verschiedenheit weitgehend identisch. Dies bietet auch die Grundlage für ein europarechtliches Konzept der Einheit in Vielfalt. Denn die EU wird nur dann überlebens- und erweiterungsfähig sein, wenn sie akzeptiert, daß Einheit und Vielfalt sich nicht ausschließen müssen.

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Da nun die nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme spezifische Ausprägungen nationaler oder regionaler Identität und kultureller Vielfalt darstellen, fallen auch sie unter den Schutz der nationalen Identität und kulturellen Vielfalt. Daraus ergeben sich m.E. drei Konsequenzen.

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  • Zum einen folgt daraus daß die Kompetenz auf dem Gebiet des Staatskirchenrechts bei den Mitgliedstaaten verbleibt. Die EU hat auf dem Gebiet des Staatskirchenrechtes weder eine Kompetenz zur Rechtsetzung noch zur Rechtsangleichung. Die Entwicklung eines europäischen Religionsrechtes kann daher weder eine Harmonisierung der staatskirchenrechtlichen Verhältnisse zum Ziel haben, noch die Schaffung eines eigenständigen europäischen Staatskirchenrechtes. Vielmehr gilt es, die unterschiedlichen staatskirchenrechtlichen Systeme in das europäische Recht zu integrieren. Dabei muß auch das Nebeneinander verschiedener Systeme hingenommen werden. So ist auch die Amsterdamer Kirchenerklärung zu verstehen.12

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  • Aus dem Gebot der Wahrung der nationalen Identität und kulturellen Vielfalt ergibt sich zum zweiten für die EU ein Gebot zur Rücksichtnahme auf die nationalen Besonderheiten der Mitgliedstaaten. Die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten gegenüber der EU findet andererseits auch an der nationalen Identität ihre äußerste Grenze. Dies dürfte auch die Kernausage der Amsterdamer Kirchenerklärung sein. Das bedeutet nun freilich nicht, daß sobald Bereiche betroffen sind, welche die nationale Identität berühren, europäisches Recht grundsätzlich unanwendbar ist. Dazu sind die Berührungspunkte zu vielfältig.13 Kulturelle, soziale oder religiöse Gesichtspunkte können aber im Einzelfall auch primäres europäisches Recht - insbesondere die Freiheit des Waren-, Personen-, und Dienstleistungsverkehrs - einschränken. So hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) 1989 beispielsweise die Einschränkung der Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen als eine mit dem europäischen Recht vereinbare Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit (Artikel 30 EG-Vertrag) erachtet, da dadurch sozialen und kulturellen Besonderheiten Rechnung getragen werde.14
    Demgegenüber erklärte der EuGH freilich 1996 im Urteil zur europäischen Arbeitszeitrichtlinie die Vorschrift, wonach der Sonntag Regelruhetag sein sollte, für nichtig.15 Die Arbeitszeitrichtlinie sollte dem Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer dienen. Der EuGH erklärte zur Begründung, es sei nicht dargetan worden, warum der Sonntag als wöchentlicher Ruhetag in engerem Zusammenhang mit der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer stehen sollte als ein anderer Wochentag. Auf den ersten Blick scheint diese Entscheidung im Widerspruch zu der erstgenannten von 1989 zu stehen. Das Gegenteil ist freilich der Fall. Der EuGH betont mit dieser Entscheidung die strikte Neutralität der EU in religiösen Fragen. In der ersten Entscheidung hatte der EuGH entschieden, daß die Mitgliedstaaten soziale, kulturelle und religiöse Besonderheiten in ihrer Gesetzgebung berücksichtigen dürfen und dies vom europäischen Recht zu respektieren ist. Wie der EuGH nun im Urteil zur Arbeitszeitrichtlinie deutlich macht, ist es freilich unzulässig, dem durch das europäische Recht eine bestimmte Richtung vorzugeben, etwa durch die Bestimmung des Sonntags als Regelruhetag. Dies ergibt sich m.E schon aus der Garantie der nationalen Identität und Kultur, da der EU auf diesem Gebiet die Kompetenz fehlt.

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  • Schließlich ergibt sich aus dem Gebot der Wahrung der nationalen Identität auch eine generelle Auslegungsregel zugunsten der Wahrung nationaler Besonderheiten. Ist daher ein Bereich aus dem nationalen Staatskirchenrecht durch europäisches Recht betroffen, so ist diejenige Auslegung des europäischen Rechts zu wählen, durch die das nationale Staatskirchenrecht am wenigsten beeinträchtigt wird. Dies wird nun auch durch die Amsterdamer Kirchenerklärung unterstrichen.
    Als Beispiel soll die viel gescholtene europäische Datenschutzrichtlinie dienen.16 Danach ist die Verarbeitung von Daten nur aufgrund eines wichtigen öffentlichen Interesses gerechtfertigt. Der Datentransfer von Meldedaten zwischen staatlichen und kirchlichen Behörden, wie er dem deutschen Kirchensteuersystem zugrunde liegt, wird nun - nach entsprechenden Protesten - zwar ausdrücklich als wichtiges öffentliches Interesse in der Richtlinie erwähnt. Dies hätte sich m.E. aber auch schon durch eine entsprechende Auslegung des Begriffs "öffentliches Interesse" ergeben. Das deutsche Kirchensteuersystem dürfte daher durch die Datenschutzrichtlinie entgegen mancher Befürchtungen kaum wirklich in Gefahr gewesen sein.

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Freilich findet auch die Verpflichtung zur Achtung der nationalen Identität eine Grenze. Indem Artikel 6 Absatz 1 des Maastricht-Vertrages von 1992 etwa erklärt, allen Mitgliedstaaten seien die Grundsätze "der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit" gemeinsam, bilden diese Grundsätze auch den Rahmen, in welchem nationale Identität allein Schutz verdient. Auch die Pflicht zur Wahrung und Förderung der nationalen und regionalen kulturellen Vielfalt steht unter dem Vorbehalt der gleichzeitigen Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes (Artikel 151 EG-Vertrag). Zu diesen begrenzenden gemeinsamen Grundsätzen und dem gemeinsamen kulturellen Erbe dürften auch die oben dargestellten Gemeinsamkeiten der verschiedenen staatskirchenrechtlichen Modelle zählen, insbesondere das Prinzip des religiös und weltanschaulich neutralen Staates.17

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V. Der Schutz der Religionsfreiheit im europäischen Recht

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt bei der Auslegung europäischen Rechts ist die Beachtung der Grundrechte, hier insbesondere das Recht auf Religionsfreiheit. Dabei ist zu beachten, daß es drei Dimensionen des Europarechts gibt. Neben der Europäischen Union sind dies die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE, ehemals KSZE) sowie der Europarat.

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  • In der KSZE-Schlußakte von Helsinki von 1975 verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten zur Achtung der "Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, und Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle". Weiter ist das Abschlußdokument der Wiener KSZE-Nachfolgekonferenz, die 1989 abgeschlossen wurde, zu nennen. Darin wurde der Inhalt des Rechts auf Religionsfreiheit konkretisiert. Von Bedeutung ist dabei vor allem die Erwähnung einzelner Elemente des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften, insbesondere die Freiheit der Organisation und der inneren Ordnung sowie der Ausbildungs- und Ämterfreiheit. Dadurch wurde die in anderen Menschenrechtsdokumenten übliche Beschränkung auf den individualrechtlichen Aspekt aufgebrochen. Weiter verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, den Religionsgemeinschaften die Teilnahme am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Das Recht auf Religionsfreiheit wurde in der "Charta von Paris für ein neues Europa" von 1990 von den Mitgliedstaaten der KSZE nochmals bekräftigt. Die Charta wurde auch vom Präsidenten der Europäischen Kommission unterzeichnet.
    In diesem Zusammenhang sei auch noch auf weitere weltweite Dokumente zum Schutz der Religionsfreiheit verweisen. Sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wie im Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 werden das Recht auf Religionsfreiheit gewährt. Dieses Recht wird in der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1981 verabschiedeten "Erklärung über die Beseitigung aller Formen der Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung" konkretisiert. Dort werden eine Reihe von besonderen sowohl individuellen als auch kollektiven Freiheiten aufgezählt.

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  • Aus dem Bereich des Europarates ist insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 von Bedeutung, in der ebenfalls die Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit gewährleistet wird. Weiter ist das erste Zusatzprotokoll zur EMRK von 1952 zu nennen, worin das Recht der Eltern zur religiösen Erziehung ihrer Kinder sichergestellt wird. Gerade die EMRK ist auch für das Recht der Europäischen Union relevant.18

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  • Die Europäische Union hat jedoch keinen eigenen kodifizierten Grundrechtskatalog.19 Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat freilich schon früh eine umfängliche Grundrechtsrechtsprechung entwickelt. Danach ergibt sich der Grundrechtsschutz in der EU aus ungeschriebenem Recht. Dieses speist sich aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Mitgliedstaaten und aus internationalen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte, hierbei insbesondere aus der EMRK. Diese Rechtsprechung des EuGH wurde in Artikel 6 Absatz 2 des Maastricht-Vertrages von 1992 ausdrücklich bestätigt. Danach achtet die EU die Grundrechte, wie sie sich aus der EMRK und aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten "als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts" ergeben.

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Bemühungen des Europaparlamentes, darüberhinaus einen separaten Grundrechtskatalog in die europäischen Verträge aufzunehmen, blieben bislang erfolglos. Ziel der Vertragsrevision von Amsterdam war zwar auch die Stärkung des Grundrechtsschutzes, eine grundlegende Stärkung der Grundrechte auf europäischer Ebene erfolgte durch den Amsterdamer Vertrag jedoch nicht. Zweifellos gehört auch die Religionsfreiheit zu den im Recht der EU geschützten Grundrechten. Sie umfaßt grundsätzlich sowohl die individuelle wie auch die kollektive Religionsfreiheit, wird jedoch - wie sich aus den Verfassungstraditionen aller Mitgliedstaaten ergibt - nicht schrankenlos gewährt.

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Der europarechtliche Schutz der Religionsfreiheit wurde vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Fall Prais bestätigt.20 Anlaß war, daß die Klägerin, eine Bewerberin für eine Beamtenstelle im Rat, aufgrund ihres jüdischen Glaubens den auf einen jüdischen Feiertag fallenden Termin für eine schriftliche Prüfung nicht wahrnehmen konnte. Unter Verweis auf das Gleichbehandlungsgebot lehnte der EuGH zwar einen Sondertermin ab. Er befand aber, wenn ein Bewerber der Antragsstellungsbehörde mitteile, daß ihn religiöse Gebote daran hinderten, sich an bestimmten Tagen zu den Prüfungen einzufinden, müsse die Behörde dem Rechnung tragen und alle sachgerechten Maßnahmen ergreifen, um religiöse Konflikte zu vermeiden. Freilich vermied der EuGH, dies ausdrücklich auf die Religionsfreiheit zu stützen. Grundlage für die Entscheidung war vielmehr das Verbot der Diskriminierung aus religiösen oder anderen Gründen. Wenngleich also der EuGH hier zwar nicht ausdrücklich vom Recht auf Religionsfreiheit spricht, so macht er doch deutlich, daß auch religiöse Bedürfnisse gemeinschaftsrechtlich zu wahrende Interessen darstellen. Letztlich aber wurde durch dieses Urteil doch die Geltung der Religionsfreiheit im Gemeinschaftsrecht anerkannt.21 Zumindest in Ansätzen lassen sich auch die staatskirchenrechtlichen Grundsätze der Neutralität, der Toleranz und der Gleichbehandlung in religiösen Fragen erkennen.

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VI. Zusammenfassung

Bereits durch Artikel 6 des Vertrages von Maastricht erfährt der Status, den Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, hinreichend Schutz. Weiter wird auch die Religionsfreiheit im Recht der Europäischen Union geschützt. Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß die rechtliche Stellung der Kirchen im europäischen Recht durch die jetzt angefügte Amsterdamer Kirchenerklärung nicht verändert wird. Die Bedeutung der Erklärung liegt daher weniger im rechtlichen als vor allem im politischen Bereich, da nunmehr auch Kirchen und Religionsgemeinschaften ausdrücklich als Akteure in Europa anerkannt sind.22 Durch die ausdrückliche Erwähnung wird aber auch die bereits vorhandene rechtliche Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften nochmals gestärkt. Bislang sind staatskirchenrechtliche Konflikte auf europäischer Ebene ausgeblieben. Die Amsterdamer Kirchenerklärung unterstreicht aber deutlich, daß das nationale Staatskirchenrecht nicht durch ein vereinheitlichendes europäisches Religionsrecht verdrängt werden darf.

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Als spezifischer Ausprägung der Verpflichtung der EU zur Achtung der nationalen Identität kommt der Amsterdamer Kirchenerklärung darüber hinaus aber auch eine grundsätzliche Bedeutung zu. Sie ist ein wichtiger und richtiger Schritt zu einem europäischen Konzept von Einheit in Vielfalt.

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VII. Literaturhinweise

Bleckmann, Albert, Die Wahrung der "nationalen Identität" im Unions-Vertrag, in: Juristen-Zeitung 1997, S. 269ff.
Campenhausen, Axel Freiherr von, Staatskirchenrecht, München 1996
Ehnes, Herbert, Zum Verhältnis der Kirchen zur Europäischen Union, Kirche und Recht 1997, Lz. 140, S. 47ff.
Hollerbach, Alexander, Europa und das Staatskirchenrecht, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 35 (1990), S. 250ff.
Kiderlen, Hans-Joachim u.a. (Hg.), Which relationships between churches and the European Union? - Thoughts for the future / Quelles relations entre les églises et l´Union Europèene? - Jalons pour l´avenir, Leuven 1995 (deutsche Übersetzung: epd-Dokumentation 22/96)
Link, Christoph, Staat und Kirche im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 42 (1997), S. 130ff.
Müller, Gerhard, Staat und Kirche im modernen Europa, in: Informationes Theologicae Europae - Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie (5) 1996, S. 263ff., Gerhard, Staat und Kirche im modernen Europa, in: Informationes Theologicae Europae - Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie (5) 1996, S. 263ff.
Pernice, Ingolf, Religionsrechtliche Aspekte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Juristen-Zeitung 1977, S.777ff.
Robbers, Gerhard (Hg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, Baden-Baden 1995.
Robbers, Gerhard, Europa und die Kirchen, in: Stimmen der Zeit 1998, S.147ff.
Robbers, Gerhard, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Europa, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 42 (1997), S. 122ff.
Tempel, Heidrun, Als Akteure anerkannt - Die Europäische Union achtet den Status der Kirchen, in: Evangelische Kommentare 1997, S. 443.
Tempel, Heidrun, Maastricht II - Ein Thema für die Kirchen in Europa, in: Informationes Theologicae Europae - Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie (4) 1995, S. 375ff.
Torfs, Rik, Vergleichende Darstellung der staatskirchlichen Modelle, noch unveröffentlichtes Manuskript (Wien, 18. September 1998)

 

 

* Der Aufsatz wurde erstmals in Una Sancta 1999, S. 59ff. veröffentlicht. Für die vorliegende Fassung wurde er nochmals leicht überarbeitet.

1 Hollerbach, ZevKR 1990, S. 250f.

2 Vgl. zur Genese Ehnes, KuR 1997, Lz. 140, S. 47, 51 und Tempel, EvKomm 1997, S. 443. Die EECCS hat sich zum 1.1.1999 in die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) integriert und bildet mit dem KEK-Sekretariat für Kirche und Gesellschaft eine neue Kommission unter dem Dach der KEK

3 Vgl. etwa Christentum und politische Kultur, Erklärung des Rates der EKD vom Oktober 1997, Punkt 29.

4 Etwa Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 418.

5 Dazu Robbers, Stimmen 1998, S. 147, 154.

6 Dazu Robbers, ZevKR 42, S. 122, 123ff; vgl. auch die Länderdarstellungen in: Robbers, Staat und Kirche.

7 So Müller, IThE 1996, S. 263, 271ff.

8 Dazu Ferrari in: Kiderlen, S. 34 ff

9 Robbers, ZevKR 42, S. 122, 127 nennt dies die "These der Konvergenz".

10 Vgl. dazu Torfs, Vergleichende Darstellung (III.) der entsprechend zwischen einem Basisniveau A und einem Niveau B unterscheidet.

11 Dazu Bleckmann, JZ 1997, 269.

12 Vgl. Robbers, Stimmen 1998, S. 147, 152.

13 In einer gemeinsamen Stellungnahme der evangelischen und der katholischen Kirche vom Januar 1995 "Zum Verhältnis von Staat und Kirche im Blick auf die Europäische Union" werden u.a. aufgezählt das Wohlfahrtsrecht, das Bildungsrecht, die theologischen Fakultäten, das Medienrecht, der Sonn- und Feiertagsschutz, das kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht sowie das Kirchensteuerrecht. Vgl. dazu Link, ZevKR 1997, 130.

14 Urteil vom 23.11.1989 (EuGHE 1989, 3851). Inzwischen ist der EuGH der Ansicht, daß nicht produktspezifische Verkaufsmodalitäten, wie die Festlegung der Ladenöffnungszeiten, nicht am Maßstab des Art. Art. 30 EGV zu messen seien. Die Berücksichtigung sozio-kultureller Besonderheiten sei dabei im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Sache der Mitgliedstaaten (vgl. Urteil vom 20.6.1996, EuGHE 1996, 2975).

15 Urteil vom 12.11.1996 (EuGHE 1996, 5755).

16 Vgl. dazu Link, ZevKR 42, S. 130, 149.

17 So auch Ferrari, in Kiderlen, S. 37 f.

18 Dazu Hollerbach, ZevKR 35, S. 250, 252f.

19 Dazu Tempel in: Kiderlen, S, 13 ff und Tempel, IThE 1995, S. 380ff

20 Urteil vom 27.10.1976 (EuGHE 1976, 1589)

21 Vgl. Pernice, JZ 1977, S. 777, 780.

22 Tempel, EvKomm 1997, S. 443