Religionsfreiheit und Shinto in Japan

Von Hiroaki Kobayashi

 

Hinweis: Diese Abhandlung ist zwischenzeitlich auch offline publiziert. Bibliographische Angaben: Hiroaki Kobayashi, Freiheit der Religion und Shinto in Japan, in: österreichisches archiv für recht & religion 51 (2004), 177-188.

 

Inhaltsverzeichnis

  1. Problemstellung
  2. I. Der soziologische Hintergrund der japanischen Religion
    1. Die Eigenart der religiösen Verhaltensweise der Japaner
    2. Die religiöse Erscheinungform des Shintoismus
    3. Der Ahnenkult
    4. Religion zum Schutz des Staates
  3. II. Religonskontrolle der Regierung unter der Meiji-Verfassung: Staat-Shinto
    1. Die Einheit von Politik und Religion
    2. Die Trennung des Buddhismus und des Shintoismus
    3. Die Religionen unter Aufsicht des Staates
    4. Die Änderung der Religionspolitik
    5. Die Religionsfreiheit unter der Meiji-Verfassung
    6. Die Entkleidung des religiösen Charakters
    7. Die Eingliederung des Schrein-Shintos in das Kaiserhaus
    8. Die Theorie der Nichtreligion im Schrein-Shinto
    9. Das Verhältnis zwischen Staat und Religion bis zum Ende des II. Weltkrieges
  4. III. Religionsfreiheit im Nachkriegsjapan
  5. IV. Vorläufige Bewertung: Kaisertum, Shinto und Religionsfreiheit
  6. Schlußfolgerungen
 

Problemstellung

 
In dieser Abhandlung geht es um das Charakteristikum des Shinto. Ist der Shinto eine Religion oder keine? Es geht ferner um die Trennung der religiösen Gemeinschaften von dem Staat, die strikte oder lose Trennung. Dahinter steckt ein brisantes politisches Problem. Hier wird man erkennen müssen, daß die Verfassung und die Auslegung der Verfassung im höchsten Maß mit der Politik zu tun hat.

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Es ist eine klare Tatsache, daß die religiöse Verhaltensweise eines Volkes auf die Religionsfreiheit eine überragenden Einfluß ausübt. Die religiöse Verhaltensweise ist je nach Ländern unterschiedlich zum Ausdruck gebracht1.

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Um den Inhalt der religiösen Verhaltensweise feststellen zu können, muß zunächst die Erscheinungsform der zwei großen Religionen in Japan, des Shintoismus und des Buddhismus, untersucht werden. Danach soll versucht werden, die gegenwärtige rechtliche und tatsächliche Lage der Freiheit der Religion und der Weltanschauung festzustellen.

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I. Der soziologische Hintergrund der japanischen Religion

 

1. Die Eigenart der religiösen Verhaltensweise der Japaner

 
Die Eigenart der reiligiösen Verhaltensweise der Japaner liegt in den traditionellen buddhistischen und shintoistischen Zeremonien, in den Besuchen der buddhistischen Tempel und shintoistischen Schreine an Neujahr und vor allem beim Ahnenkult. Dagegen ist es sowohl geschichtlich als auch gegenwärtig eine Seltenheit, daß ein Japaner für sein ganzes Leben an eine bestimmte Gottheit glaubt und nach deren Lehre lebt.

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Nach der Statistik gibt es unter den 130 Millionen Japanern 220 Millionen Religionsangehörige. Dies ist ein Indiz dafür, daß ein Japaner mehr als einer Religionsgemeinschaft angehört. Darin wird der Relativismus der religiösen Verhaltensweise der Durchschnittsjapaner im allgemeinen ausgedrückt. Ein Durchschnittsjapaner kann als Hausangehörigen zu einer buddhistischen oder shintoistischen Gemeinschaft gehören und als Kommunalangehöriger zu einer shintoistischen Gemeinschaft (also religiöse Doppelmitgliedschaft!). Der Grund für die Entfremdung der christlichen Religonen und anderen neuen religösen Gemeinschaften liegt in den typischen religiösen Eigenschaften der Japaner.

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Andererseits feiert ein Durchschnittsjapaner bei der Geburt seines Kindes shintoistisch, bei der Hochzeit entweder shintoistisch oder christlich (Region Tokyo: 35 %, Region Osaka: 24 %) und bei der Beerdigung buddhistisch oder shintoistisch.2 Woraus entsteht diese religiöse Erscheinungsform?

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2. Die religiöse Erscheinungform des Shintoismus

 
Der Shintoismus (Shinto = der Weg der Gottheiten)3 bestand schon vor der Entstehung des japanischen Staates. Der Shintoismus entstand aus der Reisanbau-Kultur und sucht deshalb die Harmonie mit der Natur und vermittelt die vier Jahreszeiten als anpassende enfache Lebensweise eines Menschen. Der Shintoismus ist eine Naturreligion ohne konkrete Gründer und mehr als eine soziale Konvention als eine Religion im Bewußtsein eines Durchschnittsjapaners verwurzelt.

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Im Unterschied zum Christentum, Islam und Judentum mit nur einer einzigen absoluten Gottheit, kennt der Shintoismus nur relativ höhere Gottheiten (zunächst mindestens acht Millionen Gottheiten! = Yaoyorozunokami). Sogar jeder, der in der Gesellschaft gewisse hervorragende Leistung vollbracht hat, könnte zur Gottheit hervorgehoben werden. Sogar nutzbringende Tiere, Pflanzen und die gesamten Naturerscheinungen könnten zur Gottheit erhoben werden.

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Nur ein Beispiel: Yasukuni-Schrein, der Schrein für verstorbenen Soldaten (2,5 Millionen), früher Shoukonsha (der die verstorbenen Seelen zurückrufende Schrein), wurde 1879 umbenannt.

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Da der Shinto eine Naturreligion ohne schriftliche Lehre und weder Missions- noch Gründerreligion ist, war es leicht, den Buddhismus in sich aufzunehmen. Der Buddhismus ist eine Religion ohne absolute Gottheit und beansprucht im allgemeinen keine Exklusivität, konnte deshalb leicht von der Shinto-Bevölkerung aufgenommen werden; allerdings ohne die eigene ursprüngliche Religion (den Shinto) aufzugeben.

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Seitdem sind die beiden Religionen bis heute gemeinsam in der Familie und in der Gemeinde des Durchschnittsjapaners erhalten. Es ist keine Seltenheit in Japan, daß sich in einer japanischen Familie gleichzeitig ein Shinto-Altar (oben) und ein buddhistischer Altar (unten) befindet. Ich bin z. B. in meiner Heimatdorfgemeinschaft in Nordjapan das Vorstandsmitglied der buddhistischen Tempelgemeinschaft und halte dennoch gleichzeitig enge vertrauliche Beziehungen zum Shinto-Priester, lade ihn zur Neujahrsversammlung des Kobayashi-Klans, dessen Vorsteher ich bin, ein und lasse ihn mit der ganzen Klan-Gemeinschaft für den glücklichen Verlauf des Jahres zelebrieren.

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Die Hauptströmung des geschichtlichen Shinto, nämlich der Schrein-Shinto (Jinjashinto), ist die sowohl staatliche als auch regionale Solidargemeinschaft ohne Gründer, an deren Spitze auf der Grundlage der Mythologie (Nihonshoki) der Kaiser steht. Nach der Definition von Ono, Sokyo4, ist Shinto "Die Verehrung der Sonnengöttin Amaterasu-Omikami als die höchste und edelste unter allen Götter/innen, auf der Grundlage der ureigenen japanischen Tradition, die Erinnerungsfeier aller acht Millionen Gottheiten und Ahnen. Das Dienen gegenüber der Gesellschaft mit dem Geist des Gottheiten-Dienens, das Beten für die Entfaltung des Vaterlandes, mit dem im Kaiser selbst ausgedrückten Yamato-Geist und der Wunsch für das Glück der gesamten Menschheit."

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3. Der Ahnenkult

 
Der Ahnenkult ist so alt wie der Shintoismus und untrennbar mit ihm verbunden. Die Ahnen bilden und sind die Grundlage nicht nur jeder Familie, sondern auch jedes Klans sowie auch jeder Dorfgemeinschaft. Von den Ahnen wird der Schutz der Nachkommenschaft erwartet. Er wird im Erfolg der landwirtschaftlichen Produkte (Reisprodukte) ausgedrückt. Die Verehrung der Ahnen wird somit in der Form der Verehrung der landwirtschaftlichen Gottheiten und Reis-Seelen dargestellt.

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Der Buddhismus hatte ursprünglich als religiöse Lehre mit dem Ahnenkult nichts zu tun gehabt. Er ist jedoch in Japan nach und nach mit dem Ahnenkult und somit mit dem Shinto verbunden worden. Im Ahnenkult fühlen sich der Buddhismus und Shinto verbunden und der Buddhismus hat sich in Japan durch die Aufnahme des Ahnenkultes rasch verbreiten können5.

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4. Religion zum Schutz des Staates

 
Im Jahre 538 wurde der Buddhismus über die koreanische Halbinsel eingeführt. Der Buddhismus (wörtlich: die Lehre von dem Erleuchteten!) wurde ursprünglich vom japanischen Volk als "Götter/innen des Nachbarlandes (Tonarikuninokami)" betrachtet und vermischte sich allmählich mit dem Shintoismus.

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200 Jahre danach wurde der Todaiji (Tempel) in Nara gebaut. Innerhalb des Tempelgrundstücks wurde auch ein Shinto-Schrein gebaut. Er war das Symbol der Einheit von Buddhismus und Shinto und der Autorität des Kaisers (der Staatsgewalt). Andererseits befindet sich in den Grundstücken der Shinto-Schreine auch ein buddhistisher Tempel.

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Seitdem wurde der Buddhismus und Shinto immer vom Staat und Kaiserhaus geschützt und die buddhistischen und shintoistischen Priester ihrerseits zelebrieren öfters für das Gedeihen und Stabilität des Staates und des Kaiserhauses. So ging die Vermischung des Buddhismus und Shinto und die Verflechtung der beiden Religionen mit der Staatsmacht Hand in Hand bis zur Meiji-Restauration (1868). Die führenden Familien der größeren buddhistischen und shintoistischen Zentren pflegten und pflegen mit dem Kaiserhaus verwandschaftliche Beziehungen.6

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II. Religionskontrolle der Regierung unter der Meiji-Verfassung: Staat-Shinto

 
Von der Meiji-Restauration bis zum Ende des II. Weltkrieges war unter der konstitutionellen Monarchie (Kaisersystem) der Shinto zum Staatskult erhoben.

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1. Die Einheit von Politik und Religion

 
Dies wurde als "die Einheit der Politik und Zeremonie" (= Religion) (Saikyo-Ichi) und "die Politik, den Shinto zur Nationalreligion zu erheben (Shinto-Kokkyoka-Seisaku)" oder später "die Politik der nationalen Erziehung (Kokumin-Kyoka-Seisaku)" bezeichnet.

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Dahinter steckt der Umstand, daß die damals neu entstandene Meiji-Regierung das verstärkte religiöse Shinto-Bewußtsein des japanischen Volkes zur nationalgeistigen Einheit benutzen und durch die Politik der Einheit der Religion (Shinto) und der Politik das gesamte Volk geistig kontrollieren konnte.

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Das Idealbild der Meiji-Restauration lag in der Einheit der Religion (Shinto) und der der herkömmlichen Kaiser-(Shinto-)Mytologie entsprechend wiedererrichteten (restaurierten) Kaiser-Regierung. Der Regierungserlaß vom 14. Mai 1871 stellte fest, daß die Zeremonie des Shino-Schreins keine private familieneigene Sache, sondern eine öffentliche Angelegenheit ist, und verbot die Erbfolge des Shinto-Priesteramtes.

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Gleichzeitig wurden die gesamten Shinto-Schreine hierarchisiert, an deren Spitze der Ise-Groß-Schrein, der Kaiserliche Hausschrein stand. In der Hierarchie spielte auch der Yasukuni-Schrein (früher: Shokonsha = Schrein für verstorbene Soldaten) von Anfang an eine wichtige Sonderrolle.7

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2. Die Trennung des Buddhismus und des Shinto

 
Wie schon dargestellt, sind der Shinto und Buddhismus einander eng verflochten. Der Shinto spielte jedoch geschichtlich wegen seines naturreligiösen Charakters spirituell dem Buddhismus gegenüber eine gewisse untergeordnete Rolle. Vor der Restaurationsära (insbesondere Tokugawa-Ära) hatte der Buddhismus sogar die Rolle einer Quasi-Staats-Religion. Mit der Restauration und mit der Erhebung des Shinto zum Staat-Shinto (Religion) sollte die Rolle des Buddhismus geändert werden. Die Reform der Verflechtung der beiden Religionen war ihre Trennung. Die konkrete Kontrolle des Schrein-Shinto durch den Staat begann zunächst mit dem Ausschluß der buddhistischen und konfuzianischen Elemente aus dem Schrein-Shinto. Sie verursachten Verwirrung und erzielten nur einen Teilerfolg. Der Regierungserlaß verpflichtete z. B. die Eltern, ihr neugeborenes Kind beim Ortsshintoschrein anzumelden und das Schutzzertifikat abzuholen.8

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3. Die Religionen unter Aufsicht des Staates

 
Die Erhebung des Shinto zur Staatsreligion bedeutet jedoch keineswegs die Übermacht der religiösn Institution (d. h. Schrein-Shinto) gegenüber dem Staat, sondern die einseitige Übermacht des Staates (Kaiser-Regierung) gegenüber der religiösen Institution. Der Shinto war von Anfang der Meiji-Restauration an bis zum Ende des II. Weltkrieges ausschließlich das Instument und das Objekt der Politik des Staates geblieben und niemals umgekehrt.9 Unter diesem System wurde das religiöse Leben unter Staatsaufsicht gestellt.

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Die neuen religiösen Gemeinschaften (z. B. Omotokyo, Pl-kyo, Sokagakkai usw.), die als mit dem Kaisersystem im Widerspruch stehend betrachtet wurden, wurden vom Staat unterdrückt und verfolgt. Das Volk wurde verpflichtet, einer bestimmten Volksreligion (Staat-Shinto)10 anzugehören.

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4. Die Änderung der Religionspolitik

 
Da die Religionspolitik der neuen Regierung zu radikal-einseitig und deshalb nicht sehr erfolgreich war, änderte die Regierung ihre Politik sehr rasch. In der "Politik der nationalen Bildung" wurde die Kaiserverehrung groß geschrieben. Der Buddhismus hat den Status einer quasi-öffentlichen Religion wieder erhalten. Der Status eines buddhistischen Priesters war jedoch demjenigen eines shintoistischen Priesters untergeordnet.11

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5. Die Religionsfreiheit unter der Meiji-Verfassung

 
Die universalistischen Religionen, wie etwa das Christentum, wurde in der Anfangsphase der Meiji-Restauration von Staatswegen abgelehnt und unterdrückt. Nach einer Weile wurde jedoch um der Erlangung der Gleichberechtigung der internationalen Verträge wegen das Christentum effektiv geduldet. Die Freiheit der Religion, die auch die Würde des Menschen achtete, wurde nach Artikel 28 der Meiji-Verfassung "soweit sie die öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht stört und mit der Verpflichtung des Volkes als Untertanen des Kaisers nicht im Widerspruch steht", unter der Voraussetzung der Verabsolutierung der religiösen Autorität des Kaisers erlaubt.

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Unter die Bedeutung der "Verpflichtung als Untertanen des Kaisers" war ursprünglich u. a. die Wehrpflicht, die Steuerpflicht, die Pflicht zur Beachtung der Gesetze, die Pflicht zur Vermeidung einer respektlosen Verhaltensweise im Shinto-Schrein usw. subsumiert, nicht jedoch die Pflicht zur Beteiligung an den Shinto-Zeremonien.12

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6. Die Entkleidung des religiösen Charakters

 
Solange der Artikel 28 der Meiji-Verfassung die Religionsfreiheit ohne gesetzlichen Vorbehalt garantierte, konnte man das Volk rechtlich nicht zur Respektierung und zur Verehrung des Schrein-Shinto verpflichten. Die Alternative war die Entkleidung des religiösen Charakters des Schrein-Shintos.

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Durch den Staat wurde Shinto des religiösen Charakters entkleidet (Shinto sei keine Religion im herkommlichen Sinne!), und ihr wurde verboten, die Missionierung und die Beerdigung durchzuführen. Seine Tätigkeit beschränkte sich ausschließlich auf "Zeremonien". Dies bedeutete die Trennung des Shinto von der Religion.

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Solange sich die Tätigkeit des Schrein-Shinto auf "Zeremonien" beschränkt, war sie eine öffentliche Angelegenheit, aber keine religiöse Tätigkeit. Noch klarer ausgedrückt, unter der Meiji-Verfassung war der Schrein-Shinto als Institution keine Religion, die Respektierung und Verehrung des Schrein-Shintos (und des Kaisers!) eine öffentliche Angelegenkeit. Alle übrigen Religionen waren dagegen keine öffentliche, sondern eine private Angelegenheit. Dies war das System des Staat-Shintos.13

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Die Entkleidung des religiösen Charakters vom Shinto äußerte sich im "Sophia-Universitäts-Fall": Im Oktober 1931 verweigerten die Studenten der Sophia-Universität Tokyo die Verbeugung vor dem Yasukuni-Schrein und zwar aus "religiösen Gründen". Der Fall wurde mit dem Schreiben des Kultusministeriums und des Erzbischofs von Tokyo gelöst. "Die Verpflichtung der Studenten zur kollektiven Verbeugung vor dem Yasukuni-Schrein begründet sich nicht in der Religion, sondern im Zeichen der Treue zum Vaterland."14 Also die Entkleidung des religiösen Charakters des Schrein-Shintos!

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7. Die Eingliederung des Schrein-Shintos in das Kaiserhaus

 
Der Schrein-Shinto wurde dann mit dem Shinto des Kaiserhauses in Verbindung gebracht und zum Staatskult erhoben. Der gesamte Schrein-Shinto wurde unter dem Ise-Schrein (Hausschrein des Kaiserhauses) an der Spitze hierarchisch gegliedert. Das Ziel der "Verstaatlichung" des Schrein-Shinto lag in der Integration des gesamten Volkes mit dem Kaiserhaus durch Trennung der Religion und der Zeremonien.

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Ob diese Trennung von Religion und Zeremonien als "Sekularisation" zu bezeichnen ist, soll hier dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall besaß der Schrein-Shinto als eine Volksreligion eine ganz andere verfassungsrechtliche Stellung als alle übrigen Religionen. Er genoß zwar mehr staatlichen Schutz, wurde jedoch dafür unter noch stärkerer Kontrolle als alle übrigen Religionen gestellt. Der staatliche Zuschuß an den Schrein-Shinto betrug in Wirklichkeit nur 10 % der notwendigen Ausgaben. So sah real die Tatsache vom "staatlichen Schutz des Shintoismus" aus.15

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8. Die Theorie der Nichtreligion im Schrein-Shinto

 
Das Ziel dieser Theorie, in der der Schrein-Shinto als Nichtreligion bezeichnet wurde, liegt in der Überwindung des Widerspruchs zwischen der Freiheit der Religion und dem Schrein-Shinto als staatlicher Zeremonie. Als Argument dafür wurde der Erlaß des Innenministeriums in den Vordergrund gestellt, in dem Shinto-Priester die Missionierung und die Begräbniszeremonie verboten wurde. Sie genügen aber nicht. Ferner wurde wie folgt argumentiert.

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Religionswissenschaftlich ist der Schrein-Shinto keine Religion, weil er keinen geschichtlichen Religionsgründer, keine Religionslehre und keine Missionstätigkeit vorzuweisen in der Lage ist, weil sein Gottesbegriff sich von dem des Abendlandes unterscheidet, weil er mehr den Charakter der sozialen Konvention als den der Religion vorweist usw.

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Auch wenn der Schrein-Shinto den religiösen Charakter und die religiösen Elemente vorzuweisen in der Lage ist, ist er verwaltungsrechtlich nicht Religion, weil er sich verwaltungsrechtlich von anderen Religionen unterscheidet. Für den Schrein-Shinto ist das Innenministerium und für andere Religionen das Kultusministerium zuständig. In der Verwaltungspraxis wird er als Nichtreligion behandelt.16

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Ob alle diese Argumente schon in der Gegenwart sowohl religionssoziologisch als auch religionsrechtlich mehr zum Schein als echte Argumente zu bezeichnen sind, darüber läßt sich streiten.17

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9. Das Verhältnis zwischen Staat und Religion bis zum Ende des II. Weltkrieges

 
Während des II. Weltkrieges wurde die staatliche Kotrolle verstärkt und z. B. die Tätigkeit der christlichen Kirchen äußerst eingeschränkt. Buddhismus und Shintoismus waren die etablierten Religionen und der Shintoismus genoß den besonderen Schutz. Für beide Religionen des status quo bedeuteten die neuen religiösen Gemeinschaften einschließlich der christlichen Kirchen als Parvenues psychologisch eine Gefahr. Die beiden etablierten Religionen waren psychologisch nicht in der Lage, gegen den staatlichen Eingriff gegen die neuen religiösen Gemeinschaften zu protestieren.

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Das bisher Ausgeführte kann wie folgt zusammengefaßt werden:

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Bis zum Ende des 2.Weltkrieges hat die Staatsgewalt im allgemeinen öfters die Religionen beherrscht, geschützt, kontrolliert, unterdrückt oder verfolgt. Umgekehrt hat bis jetzt keine Religion jemals den Staat beherrscht oder kontrolliert. In diesem Sinne genoß der Shintoismus selbst den staatlichen Schutz, aber er wurde gleichzeitig vom Staat kontrolliert, aber nie umgekehrt. In Japan waren alle religiösen Gemeinschaften aus verschiedenen Gründen Objekte der staatlichen Kontrolle, aber niemals die den Staat beherrschenden Subjekte. Dazu fehlt ihnen sowohl die Kraft als auch der Wille.

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In diem Punkte unterscheiden sich die relativistischen, pantheistischen, naturreligiösen Gemeinschaften in Japan wesentlich sowohl vom Christentum als auch vom Islam und vom Judaismus. Aus diesen Gründen richtet sich unser Interesse in bezug auf die Religionsfreiheit hauptsächlich gegenüber der Staatsgewalt, wenn auch unser Interesse gegenüber der Macht der religiösen Gemeinschaften grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist. Es geht nämlich hauptsächlich um die Befreiung der religiösen Praxis vom staatlichen Eingriff und um die staatliche Respektierung der religiösen Freiheit.18

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III. Religionfreiheit im Nachkriegsjapan

 
Das Charakteristikum der Religionregelung in der Nachkriegsverfassung Japans liegt als Akt der Bereuung in bezug auf die Religionspolitik unter der Meiji-Verfassung unter dem Einfluß der amerikanischen Besatzung, einerseits in der Abschaffung des Staatsshintoismus, in dem Ausschluß jeglicher religiöser Bezüge aus dem öffentlichen Leben (einschließlich der öffentlichen Schulen), in der strengen Trennung vom Staat und den Religionen, andererseits im Schutz und in der steuerlichen Bevorzugung der Religionsgemeischaften unter dem Gesetz über die Religionskörperschaften (Shukyo-Hojinho) von 1951.

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Durch das Gesetz über die Religionskörperschaft entstanden etwa 180.000 Religions-Körperschaften in Japan. Die buddhistischen und shintoistischen Gemeinschaften sind nur ein Teil davon. Dieses Gesetz hat im Rahmen der Nachkriegsverfassungsreform den Zweck als Bereuungsakt gegenüber den Unterdrückungen der Religion unter der Meiji-Verfassung die Religionsfreiheit zu verwirklichen.

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Der Grundgedanke dieses Gesetzes ist wie folgt: Die regiestrierten Religionsgemeinschaften dienen dem öffentlichen Wohl. Aus diesem Grunde werden ihre die Religionstätigkeit unterstützenden wirtschafltichen und Gemeinwohltätigkeiten erlaubt (also Steuererlaß!). Gesetzlich haben sowohl buddhistische, als auch shintoistische religiöse Gemeinschaften mit den neuen religiösen Gemeinschaften einschließlich der christlichen, die gleiche rechtliche Stellung und insoweit den gleichen juristischen Schutz genießen können.

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Im Vergleich zu anderen Ländern wurden ferner in bezug auf die religiöse Tätigkeit allen religiösen Gemeinschaften ein größerer Spielraum gewährt und nur sehr wenige Einschränkung auferlegt.

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Gegenwärtig gehören etwa 10 bis 20 % der Japaner zu den neuen religiösn Gemeinschaften und weniger als 1 % zu den christlichen Gemeinschaften.19

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IV. Vorläufige Bewertung: Kaisertum, Shinto und Religionfreiheit

 
Der Begriff "Religion" wurde vor etwa 150 Jahren als "Shukyo" ins Japanisch übersetzt. Dieser Begriff war bis dahin nicht existent. Der Begriff wurde vom deutschen Begriff "Religionsbewegung" ins Japanische übersetzt. Der Begriff "Shukyo" besteht aus zwei Begriffen, nämlich "Shu" und "Kyo". "Shu" bedeutet "Erinnerungsdienst für die Ahnen oder Hauptlehrer". "Kyo" bedeutet "Lehre". "Schukyo" bedeutet somit "Lehre von den Ahnen oder vom Religionsgründer".20

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So sollte man sich danach fragen, ob Shinto überhaupt eine Religion ist oder nicht. Shinto hat weder einen Religionsgründer, noch eine Morallehre. Könnten wir somit Shinto mehr als eine traditionelle soziale Konvention (Courtoisie), nicht aber als eine Religion betrachten? Wir haben schon gesehen, daß in der Meiji-Ära Shinto nicht als Religion im üblichen Sinne betrachtet wurde.

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Die Interpretation der neuen Verfassung im Nachkriegsjapan machte jedoch Shinto zu einer Religion. Die Verfassung machte gleichzeitig den Kaiser zum Symbol der Einheit des Volkes. Der Kaiser ist jedoch nicht nur das Symbol, sondern auch traditionell der Hauptpriester des Ise-Schreins (der höchste Schrein in Japan). Und bleibt es als solcher.

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Die Frage ist: Darf der rituelle Akt des Kaisers auch gleichzeitig als ein Staatsakt betrachtet werden? Oder muß der Staatsakt des Kaisers von seinen rituellen Akten diffenziert betrachtet werden?

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Aus der Sicht der strengen Trennung von Staat und Kirche und von Shinto als Religion sollte der Staatsakt des Kaisers von demjenigen seines rituellen Aktes differenziert werden. In diesem Fall sollten alle seine rituellen Akte als eine Privatsache betrachtet werden. Dies ist jedoch nur eine vorübergehende oberflächliche Lösung, aber keine allseitige. In Wirklichkeit geschieht es nicht und gehören die Kosten der rituellen Akte zum Haushalt des kaiserlichen Hofes.

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Es gibt ein anderes Problem. Von der Meiji-Restauration bis zur Gegenwart wurden Millionen Kriegsgefallene im Yasukuni-Schrein vergöttlicht und wurden vom Kaiser, Premierminister und anderen Ministern ins Gebet aufgenommen. In der Tat verpflichtet sich der Staat bis zur Gegenwart zu dieser Vergöttlichung und Anbetung.

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Diese Verpflichtung war bis zum Ende des II. Weltkrieges das geschriebene und seit dem Ende des Krieges das ungeschriebene Recht. In der Tat beteten Kaiser und Premierminister bis in die 70er Jahre im Yasukuni-Schrein. Um diese Zeit wurden die Namen der sogennanten "A-Klasse-Kriegsverbrecher" durch das Gesundheitsministerium zum Yasukuni-Schrein gebracht und dort vergöttlicht. Dieser Akt wurde von linksgerichteten japannischen Medien und chinesischen und koreanischen Regierungen als anstößig befunden und man protestierte. Seitdem geht der Kaiser nicht mehr zum Yasukuni-Schrein. Die Verantwortung des Staates für die Kriegsgefallenen bleibt jedoch bestehen.

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Die Lösung dafür wäre: Wir betrachten Shinto nicht als Religion, sondern als gesellschaftliche Konvention und sehen den Besuch des Yasukuni-Schreins als einen Akt der gesellschaftlichen Konvention (Courtoisie). Oder aber wir betrachten zwar Shinto als Religion, plädieren jedoch für eine nur lose Trennung von Staat und Religion.21

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Schlußfolgerungen

 
Wie ausgeführt, hat der Shintoismus als Urreligion (oder mehr Konvention?) im Laufe der Geschichte das Gedankengut vom Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus in sich aufgenommen, ohne eigenen ursprünglichen relativistischen Charakter (Götter/innen-Glaube) zu verlieren und ohne in andere Religionen assimiliert zu werden. Eines der Hauptmerkmale des Shintoismus ist die Toleranz gegenüber anderen Religionen. Der Shintoismus gehört somit, wenn man so will, zusammen mit der japanischen Sprache, zur ureigentlichen "Leitkultur" der japanischen Gesellschaft. Solange im Verhältnis zwischen Staat und Shinto das Element des Zwangs fehlt, könnte eine gewisse tatsächliche Begünstigung seitens der staatlichen, regionalen und kommunalen Behörden im Rahmen der Tradition und Konvention durchaus auch als rechtens betrachtet und akzeptiert werden.

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Um den Sozialfrieden zu erhalten, ist es für den säkularisierten Staat, in dessen pluralistischer Gesellschaft verschiedene religiöse Gemeinschaften existieren, als Heimatstätte aller unerlässlich, religiös-weltanschauliche Neutralität aufrecht zu erhalten., um die Religionsfreiheit schützen zu können.

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Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Staat areligiös oder gar antireligiös sein soll. Der Staat soll vielmehr des sozialen Friedens wegen den Wert der Religionen anerkennen und sich ihnen gegenüber freundschaftlich-wohwollend verhalten.

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Die Religionsfreiheit wird in einer Gesellschaft dort am besten geschützt, wo der Staat und die religiösen Gemeinschaften gegenseitig nicht eingreifen und ihre Unabhängigkeit respektieren und sich in gemeinsamen Angelegenheiten gegenseitig unterstützen. Unter den demokratischen Rechtsstaaten sucht jeder Staat auf der Grundlage seines geschichtlichen Hintergrundes die Religionfreiheit zu schützen. Somit ist kein Staat in der Lage, die auch für andere Staaten anwendbare idealtypische Form in bezug auf den Schutz der Religionsfreiheit aufrecht zu erhalten. Auch Westeuropa und Nordamerika haben mit der Religionsfreiheit Probleme.

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Der gemeinsame Punkt, der diese Staaten verbindet, ist, daß sie auf der Grundlage der christlichen Kultur (Leitkultur?) ihr Verfassungssystem aufbauen und dennoch versuchen, die Religionsfreiheit und die religiösen Minderheiten zu schützen.

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Aus der Beobachtung der Lage in Westeuropa und Nordamerika kann man den Schluß ziehen, daß auch Japan das Verfassungssystem auf der Grundlage der traditionalen, mehr oder weniger säkuralisierten buddhistisch-shintoistischen Kultur aufbaut und dennoch versucht, die Religionsfreiheit und die religiösen Minderheiten zu schützen.

61

Die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften darf, solange sie als Mittel zum Schutz der Religionsfreiheit bleiben soll, nicht verabsolutiert werden. Wegen des religiösen Relativismus und der Multi-Religions-Mitgliedschaft ist man in Japan im allgemeinen den anderen Religionen gegenüber mehr oder weniger tolerant. Aber die echte Toleranz wird auch in Japan in dem Moment entstehen, wo man feststellt und versteht, daß die Mehrheit der Menschheit in der Welt an die Existenz eines absoluten Gottes glaubt.22

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1 Vgl. Kobayashi, Hiroaki, Die Freiheit der Religion und der Schutz der religiösen Minderheiten in Japan, in: Nihon University Comparative Law 16 (1999), 55-72; ders., Multi-Religions-Mitgliedschaft und Religionsfreiheit in Japan, in: Nihon University Comparative Law 17 (2000), 15-27.

2 Vgl. Kobayashi, Hiroaki (Anm. 1) (1999), 55ff.

3 Vgl. Kone, Shozo, Shinto no Kenkyu (Die Studien des Shinto), 1930.

4 Vgl. Ono, Sokyo, Shinto no Kisochishiki to Kisomondai (Grundkentnisse und Grundprobleme des Shinto), 1963.

5 Vgl. Takeda, Choshu, Sosensuhai (Ahnenverehrung), in: Oguchi / Hori (Hrsg.), Shukyogakujiten (Lexikon der Religionswissenschaft), 1973, 514ff.; Yamada, Kunio, Senso no hanashi (Von den Ahnen), 1946; Takeda, Choshu, Sosensuhai (Ahnenverehrung), 1957; Hori, Ichiro, Minkanshinko (Volksglaube), 1951; Oguchi, Iichi, Nihonshukyo no Schakai-Tekiseikaku (Der soziale Charakter der japanischen Religionen), 1953.

6 Vgl. Kobayashi, Hiroaki (Anm. 1) (1999), 19.

7 Vgl. ebda., 19f.

8 Vgl. ebda., 20.

9 Vgl. Hirano, Takeshi, Shukyo to ho to saiban (Religion, Recht und Gericht), 1996, 20ff.

10 Der Begriff "Staat-Shinto" ist ein Nachkriegsbegriff und stammt aus dem Shinto-Erlass der amerikanischn Besatzung vom 15. Dezember 1945, in dem Shinto als Staatskult abgeschafft wurde. Vgl. Murakami, Shigeyoshi, State Shinto with Ise Shrine and Yasukuni-Shrine, in: The Religious Law (Japanese) 6 (1987), 1; Ernst Lokowandt, Die rechtliche Entwicklung des japanischn Staats-Shinto in der ersten Hälfte der Meiji-Zeit (1868-1890), Wiesbaden 1978.

11 Vgl. Kobayashi, Hiroaki (Anm. 1) (1999), 21.

12 Vgl. Hrano, Takeshi, Meiji-Kenpoka no Seikyo-Kankei (Das Verhältnis zwischen Staat und Religion unter der Meiji-Verfassung), in: Koho-Kenkyu 52 (1990), 64; Momochi, Akira, Kenpo to seikyobunri (Die Verfassung und die Trennung von Staat und Religion), Tokyo 1991, 31.

13 Hirano, Takeshi, (Anm. 9) (1996), 33.

14 Vgl. José Llommpart, Two different Approaches concerning Religious Law, in: The Religious Law (Japanese) 4 (1986), 108; ders., Der Religionsbegriff in der japanischen Verfassungslehre der Gegenwart, in: H. Schambeck (Hrsg.), Pro Fidei et Iustitia, Festschrift für Kardinal Casaroli zum 70. Geburtstag, Berlin 1984, 783ff.

15 Vgl. Momochi, Akira (Anm. 12) (1991), 30f.

16 Vgl. Hirano, Takeshi (Anm. 9) (1996), 34f.

17 Vgl. Kobayashi, Hiroaki (Anm. 1) (1999), 23.

18 Vgl. ebda., 24.

19 Vgl. ebda., 24f.

20 Vgl. Aoyama, Takenori, Shukyo no jiyu no haikei (Der Hintergrund der Religionsfreiheit in Japan), Manuskript, 22. Juni 2004, 1.

21 Vgl. Kobayashi, Hiroaki, Religion in the Public Sphere. Challenge and Opportunities. Japanese Case, in: The Eleventh Annual International Law and Religion Symposium. Religion in Public Sphere. Challenges and Opportunities. 3-5 October 2004. Brigam Young University, Provo, Utah, 14.

22 Vgl. Kobayashi, Hiroaki (Anm. 1) (1999), 25ff.