Die Statthaftigkeit der Berufung gemäß can. 1628 CIC im kirchlichen Arbeitsgerichtsprozess

Von Robert Gmeiner

 

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Rechtsprechung des KAGH
  3. Die Statthaftigkeit der Berufung
    1. 1. Abschließende Regelung der Rechtsmittel?
    2. 2. Ausschluss des Berufungsrechts?
  4. Fazit
 

I. Einleitung

 

Für bestimmte kollektivarbeitsrechtliche Bereiche (§ 2 KAGO) hat die Deutsche Bischofskonferenz eine eigene kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit errichtet. Zur inhaltlichen Überprüfung eines erstinstanzlichen Urteils steht den Parteien nach der kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung nur die Revision zu (§ 47 Abs. 1 KAGO). Dies setzt aber voraus, dass die Revision entweder durch das erstinstanzliche Arbeitsgericht selbst oder im Rahmen der sog. Nichtzulassungsbeschwerde gem. § 48 Abs. 1 KAGO durch den kirchlichen Arbeitsgerichtshof zugelassen wurde. Jedenfalls hängt die Revision zwingend von einer vorherigen Zulassung ab.

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Das allgemeine kirchliche Prozessrecht sieht in can. 1628 CIC ein Berufungsrecht für jede Prozesspartei vor, die sich durch ein Urteil beschwert fühlt, sofern kein Ausschlussgrund nach can. 1629 CIC vorliegt. Eine Zulassung entsprechend § 47 Abs. 1 KAGO setzt sie nicht voraus. Für eine unterlegene Prozesspartei kann es daher attraktiver sein, die Berufung gem. can. 1628 CIC anstelle einer Revision als Rechtsmittel zu wählen. Die setzt freilich voraus, dass die Berufung anstelle der Revision überhaupt statthaft ist.

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II. Rechtsprechung des KAGH

 

Der kirchliche Arbeitsgerichtshof (KAGH) lehnt die Statthaftigkeit der Berufung gem. can. 1628 CIC im kirchlichen Arbeitsgerichtsprozess ab. Die kirchliche Arbeitsgerichtsordnung stelle eine abschließende Regelung hinsichtlich der Gerichtsorganisation und des Verfahrensrechts im Rahmen seines Anwendungsbereichs dar und verdränge somit die allgemeinen kirchenrechtlichen Prozessvorschriften. Entgegenstehende Normen des Codex‘ seien durch einen Päpstlichen Rechtsakt dispensiert worden. Eine weitere Instanz außer der Revision sehe die Arbeitsgerichtsordnung nicht vor.1

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III. Die Statthaftigkeit der Berufung

 

Nach can. 1402 CIC sind die Vorschriften des Codex für die kirchlichen Gerichte - und damit auch das Berufungsrecht - verbindlich. Die kirchlichen Arbeitsgerichte fallen nicht unter den Anwendungsvorbehalt des can. 1402 CIC, sodass auch sie jedenfalls grundsätzlich an das Prozessrecht des Codex‘ gebunden sind. Ein Ausschluss des Berufungsrechts bedarf daher einer normativen Begründung. Bei der Frage, ob die Berufung nach can. 1628 CIC im kirchlichen Arbeitsgerichtsprozess statthaft ist, stellen sich daher zwei Fragen: Ist die kirchliche Arbeitsgerichtsordnung abschließend (1.) und falls dies verneint wird, ob die Berufung durch can. 1629 CIC oder die päpstliche Dispens ausgeschlossen wurde (2.)?

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1. Abschließende Regelung der Rechtsmittel?

 

Nach der Rechtsprechung des KAGH handele es sich bei der kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung um eine abschließende Regelung der Gerichtsorganisation und des Verfahrensrechts, sodass die allgemeinen Prozessvorschriften des Codex‘ keine Anwendung fänden.2

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Gemäß can. 1417 § 1 CIC steht es jedem Gläubigen frei, eine Rechtssache vor den Heiligen Stuhl zu bringen. Von der Möglichkeit des can. 1417 § 1 CIC kann nicht erst nach Abschluss eines gerichtlichen Verfahrens als außerordentlicher Rechtsbehelf Gebrauch gemacht werden, sondern auch ein bereits laufendes Verfahren ausgesetzt und dem Heiligen Stuhl zur Entscheidung vorgelegt werden.3

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Dieser Fall ist bereits im kirchlichen Arbeitsgerichtsprozess vorgekommen. Nachdem der KAGH im Revisionsverfahren ein erstinstanzliches Urteil aufhob und die Sache zur erneuten Entscheidung an das erstinstanzliche Gericht zurückverwies, stellte die Beklagte des Ausgangsverfahrens einen Antrag gem. can. 1417 § 1 CIC gegen die Revisionsentscheidung, ohne den Abschluss des kirchenarbeitsgerichtlichen Verfahrens abzuwarten. Das Delegationsgericht der Apostolischen Signatur hat in seinem Urteil vom 31. März 20104 seine Zuständigkeit allein auf Grundlage von can. 1417 § 1 CIC bejaht, ohne seine fehlende Jurisdiktionsgewalt im Hinblick auf die abschließende Regelung der kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung auch nur zu problematisieren, zumal die Aussetzung nach can. 1417 § 1 CIC in der kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung nicht vorgesehen ist und das Verfahren vor den kirchlichen Arbeitsgerichten noch nicht abgeschlossen war.

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Die Rechtsauffassung, dass eine Aussetzung nach can. 1417 § 1 CIC auch im kirchlichen Arbeitsgerichtsprozess statthaft ist und die abschließende Regelung der kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung dem nicht entgegensteht, entspricht auch der Rechtslehre.5 Im Codex vorgesehene Rechtsmittel sind daher nicht pauschal aus dem Anwendungsbereich der kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung ausgeschlossen. "Die" Sperrwirkung ist daher für sich allein nicht geeignet, die Berufung gem. can. 1628 CIC aus dem Anwendungsbereich des kirchlichen Arbeitsgerichtsprozesses auszuschließen.

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2. Ausschluss des Berufungsrechts?

 

Obwohl die katholische Kirche nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV eine Körperschaft des öffentlichen Rechts darstellt und daher auch öffentliche Gewalt ausübt6, ist sie grundsätzlich nicht nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte des Grundgesetzes oder der Landesverfassungen gebunden.7 Ob für Prozessgrundrechte im kirchengerichtlichen Verfahren eine Ausnahme besteht8, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn der KAGH geht davon aus, dass der grundrechtliche Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ohne inhaltliche Modifikation auch von ihm zu beachten sei. Die Verfassungsbestimmung gelte "für das kirchliche Gerichtsverfahren gleichermaßen."9 Die kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit unterliegt daher denselben rechtlichen Anforderungen an den gesetzlichen Richter wie die staatlichen Gerichte.10

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Ohne sich nun in den dogmatischen Untiefen dieses Grundrechts zu verlieren, verlangt es allgemein, dass die Zuständigkeit des zur Entscheidung berufenen Gerichts sich durch generell-abstrakte Normen zweifelsfrei11 bestimmen lässt.12 Ein Entzug des gesetzlichen Richters liegt auch dann vor, wenn der Zugang zu einem gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittelgericht verwehrt oder ohne sachlichen Grund erschwert wird.13

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Nach can. 1628 CIC ist die Berufung gegen "irgendein" (aliqua) beschwerendes Urteil statthaft, sofern kein Ausschluss nach can. 1629 CIC vorliegt. Gegen die Statthaftigkeit der Berufung in einem kirchlichen Arbeitsgerichtsprozess kommt nur ein Ausschluss nach can. 1629, 3° CIC in Betracht, wonach die Berufung ausgeschlossen ist, wenn das angefochtene Urteil in Rechtskraft erwachsen ist. Das ist dann der Fall, wenn entweder ein erstinstanzliches Urteil durch ein anderes Gericht inhaltlich bestätigt wurde (can. 1641, 1° CIC), die Berufungsfrist ohne Berufungseinlegung verstrichen ist (can. 1641, 2° CIC) oder ein gem. can. 1629 CIC unanfechtbares Endurteil ergangen ist (can. 1641, 4° CIC).14

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Ein nach can. 1641, 4° i. V. m. can. 1629, 1° CIC unanfechtbares Endurteil liegt in einem Urteil des Papstes oder der Apostolischen Signatur vor. Wie oben bereits dargelegt, unterliegen auch Verfahren vor den kirchlichen Arbeitsgerichten dem Vorlagerecht an den Heiligen Stuhl gem. can. 1417 § 1 CIC. Die Entscheidung eines kirchlichen Arbeitsgerichts steht damit keinem Urteil nach can. 1629, 1° CIC gleich, sodass insoweit keine Rechtskraft eintritt.

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Hat der KAGH im Revisionsverfahren die Rechtsauffassung des erstinstanzlichen Gerichts bestätigt, so tritt gem. can. 1641, 1° CIC Rechtskraft ein, sodass eine Berufung in den Fällen nicht mehr in Betracht kommt. Anders verhält es sich, wenn der Gerichtshof im Rahmen des Nichtzulassungsverfahrens die Beschwerde zurückweist. Erforderlich für die Rechtskraft ist, dass die Urteile15 auf demselben Rechtsgrund (causa petendi) beruhen. Aufgrund des unterschiedlichen Prüfprogramms (Revision: inhaltliche Richtigkeit des angefochtenen Urteils; Nichtzulassungsbeschwerde: Gründe, um die Revision zuzulassen) stellt die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde keine inhaltliche Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils in dem Sinne dar, da eine inhaltliche Prüfung nicht erfolgt. Die Berufung gem. can. 1628 CIC kommt daher in drei Fällen in Betracht: Erstens, wenn sie sich unmittelbar gegen das erstinstanzliche Urteil richtet, zweitens, wenn eine Nichtzulassungsbeschwerde erfolglos blieb oder drittens, wenn der KAGH zu einem anderen Ergebnis als das erstinstanzliche Gericht kommt und dessen Urteil folglich nicht bestätigt.

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Daher steht can. 1629, 3° CIC der Statthaftigkeit der Berufung zunächst nicht entgegen. Der KAGH beruft sich neben der abschließenden Regelung der kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung auch auf die päpstliche Dispens, mit welcher die kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit rechtlich überhaupt erst ermöglicht wurde, als Ausschlussgrund für die Statthaftigkeit einer Berufung. Da die Berufung kirchengesetzlich in can. 1628 CIC vorgesehen ist, muss - damit der Anspruch auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht verletzt wird - die Dispens selbst Gesetzesrang haben, sodass die Berufung durch eine generell-abstrakte Rechtsnorm und nicht nur durch einen administrativen Akt ausgeschlossen ist.

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Die Dispens ist nach der Bestimmung des can. 85 CIC die Außerkraftsetzung eines rein kirchlichen Gesetzes im Einzelfall. Entgegen der früheren Rechtsansicht ist die Dispens nach der Gewaltenlehre (can. 135 § 1 CIC) nunmehr als Verwaltungsakt der ausführenden Gewalt und nicht der Gesetzgebung zuzuordnen.16 Der Anspruch auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG - der nach der Rechtsprechung des KAGH im kirchlichen Arbeitsgerichtsprozess gleichermaßen Anwendung findet wie im staatlichen Recht - verbietet es, dass die ausführende Gewalt Einfluss auf die gerichtliche Zuständigkeit nimmt.17 Zwar wird man die Dispens als päpstlichen Akt nicht den deutschen Grundrechten unterwerfen können. Dies geschieht aber auch nicht. Denn dort liest man, dass die Normen des kirchlichen Arbeitsgerichtsprozessrechts "von den heiligen Satzungen des kirchlichen Rechts abweichen dürfen."18 Damit ist noch nicht gesagt, dass sie abweichen müssen oder tatsächlich abweichen. Dies auszufüllen ist Aufgabe der Bischofskonferenz. Aufgrund der vom KAGH angenommenen Bindung an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist der Bischofskonferenz der Ausschluss der kirchengesetzlich vorgesehenen Berufung versagt. Die administrative Dispens zum Erlass der kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung ist damit nicht geeignet, eine dementsprechende Sperrwirkung hinsichtlich der gesetzlich vorgesehenen Berufung nach can. 1628 CIC zu bewirken.

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IV. Fazit

 

Auf den kirchlichen Arbeitsgerichtsprozess findet der Anspruch auf den gesetzlichen Richter gleichermaßen Anwendung wie im staatlichen Prozessrecht.19 Damit stehen den Parteien im arbeitsgerichtlichen Verfahren alle kirchengesetzlich vorgesehenen Rechtsmittel zur Verfügung. Neben der Revision bzw. der damit verbundenen Nichtzulassungsbeschwerde (§§ 47, 48 KAGO) ist auch die Berufung gem. can. 1628 CIC statthaft, sofern kein Ausschlussgrund nach can. 1629 CIC vorliegt. Die päpstliche Dispens zur Errichtung der kirchlichen Arbeitsgerichte ist als administrativer Akt hingegen nicht geeignet, eine Sperrwirkung zu begründen. Daher darf der kirchliche Arbeitsgerichtshof eine Berufung nicht als unstatthaft verwerfen.

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1 KAGH, Beschluss vom 07.11.2019, K 08/2019, Rn. 8.

2 So bereits KAGH, Urteil vom 10.02.2012, K 10/11, Rn. 27; in Bezug auf § 2 Abs. 4 KAGO: KAGH, Beschluss vom 28.10.2019, K 12/2019, Rn. 14; aus der Lehre: Richardi, NZA 2012, 1393 (1395).

3 Lüdicke, in: ders. (Hrsg.), Münsterischer Kommentar zum CIC, Stand: 7. Erg.-Lfg. 1988, can. 1417, Rn. 2.

4 Delegationsgericht der Apostolischen Signatur, Urteil vom 31.03.2010, 42676/09 VT, S. 12 UA.

5 So auch: de Wall / Muckel, Kirchenrecht, 5. Aufl. 2017, § 19, Rn. 64 mit Verweis auf Thiel, ZMV 2005, 165 (168).

6 BVerfGE 18, 385 (387).

7 BVerfGE 102, 370 (392) zum Grundgesetz.

8 So Arning, Die Grundrechtsbindung der kirchlichen Gerichtsbarkeit, 2017, S. 214-315, insb. S. 283 ff.

9 KAGH, Urteil vom 07.07.2017, M 01/2016, Rn. 18 = BeckRS 2017, 118710 (Hervorhebung durch den Verfasser); siehe auch: KAGH, Beschluss vom 18.06.2019, K 06/2019, Rn. 2, wo der Gerichtshof Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG zu seiner Argumentation heranzieht.

10 Vgl. Gmeiner, RDV 2019, 180 (181) mit den damit verbundenen Konsequenzen.

11 BPatGE 49, 224 (228).

12 BVerfG (Plenum), BVerfGE 95, 322 (329); hierzu ausführlich: Jachmann-Michel, in: Maunz / Dürig (Begr.) / Herzog / Scholz / Herdegen / Klein (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 84. Erg.-Lfg. 2018, Art. 101, Rn. 45 ff.

13 BVerfGE 101, 331 (359 f.); entsprechend zu Art.19 Abs. 4 GG: BVerfGE 134, 106 (117 f.).

14 Der Fall des can. 1641, 3° CIC ist vorliegend ohne Belang.

15 Auf die Differenzierung zwischen Urteil und Beschluss dürfte es dagegen nicht ankommen.

16 Socha, in: Lüdicke (Hrsg.), Münsterischer Kommentar zum CIC, Stand: 52. Erg.-Lfg. 2016, can. 85, Rn. 9 m. w. N.; zur Dispens als Verwaltungsakt: ders., ebd., Stand: 50. Erg.-Lfg. 2015, can. 35, Rn. 3.

17 BVerfGE 3, 359 (364); BVerfG (Plenum), BVerfGE 95, 322 (327).

18 Hervorhebung durch den Verfasser.

19 Diese freiwillige Unterwerfung berechtigt allerdings im Falle ihrer Verletzung nicht die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, §§ 93 ff. BVerfGG (Gmeiner, RDV 2019, 180 [182, Fn. 35]) oder den entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften.