Gefährdungen der Religionsfreiheit in Europa durch religiös motivierten Terrorismus?

Von Matthias Pulte*

 

Inhalt

  1. Typologien der Gewährleistung von Religionsfreiheit in Europa
  2. Juristische Orte der Gewährleistung von Religionsfreiheit
  3. Zu den Schranken der Religionsfreiheit im Europäischen Ordnungssystem
  4. Religionsfreiheit im islamischen Rechtsverständnis
  5. Folgen der Relativierung des Menschenrechts der Religionsfreiheit
  6. Fazit
 
 

Die Religionsfreiheit ist eines der ältesten Menschenrechte, das sich vor allem seit dem Ende des 30-jährigen Krieges auf den europäischen Kontinent immer stärker zu etablieren vermochte. Dabei war es anfangs ein Abwehrrecht vor allem von religiösen Minderheiten gegenüber der Mehrheitsreligion oder der Staatsreligion.1 Mit dem Ausgreifen der Privatisierung von Religion und der Dekonstruktion des Religiösen und seiner Werte in den postmodernen Gesellschaften, erlangt dieses Abwehrrecht eine neue Aus- und Zielrichtung. Nun ist es vor allem der säkulare, zumeist religionsneutrale Staat, der zum Adressaten der Gewährleistung des in den unterschiedlichen Normen angesprochenen Freiheitsrechtes wird.  Dessen Inhalt hat der EGMR wie folgt minimalistisch umschrieben: Bewegungen, die sich als Religionen bezeichnen müssen: "a certain level of cogency, seriousness, cohesion and importance"2 aufweisen.

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Es dürfte im europäischen Grundrechts- und Werteraum inzwischen unbestritten sein, dass die Religionsfreiheit ein Menschenrecht darstellt. Damit ist zuförderst die Freiheit des Einzelnen geschützt, sich zu einer Religion oder Weltanschauung zu bekennen, oder dies zu unterlassen. Die Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungsgemeinschaften werden durch die europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Garantien jedoch weder institutionell noch hinsichtlich ihrer Wahrheitsansprüche per se geschützt.3 Aus rechtsdogmatischer Perspektive erscheint es dabei nicht unproblematisch, dass die religionsfreiheitlichen Gewährleistungen in der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Grundrechtecharta der EU (GRCh) eine mehrfache Verbürgung ein und desselben Freiheitsrechts darstellen und so ein "Knäuel differenzierter Schutzrechte"4 bilden. Ebenso wird es durchaus als problematisch wahrgenommen, dass die EMRK für die Signatarstaaten immer mehr als eine "Teil-Nebenverfassung in Sachen Europa und Religion, aber auch von Staat und Religion"5 wahrgenommen wird, die einerseits einen Anpassungsdruck auf die Staaten ausübt und anderseits die Rechtsprechung der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit zu religionsrechtlichen Fragen zunehmend vorläufig erscheinen lässt. Aufgrund der in Europa durchaus unterschiedlichen Traditionen im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung und die einfachgesetzliche Umsetzung der Religionsfreiheit, bleibt es fraglich, ob ein solcher europarechtlicher Uniformisierungsdruck dieser legitimen Pluralität gerecht wird.6

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Zugleich und von diesen angedeuteten, rechtsdogmatischen Diskussionspunkten unabhängig, ist festzustellen, dass gerade die Religionsfreiheit in der ersten und zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts weltweit vielerlei Infragestellungen und Anfeindungen ausgesetzt ist. Dabei steht in Europa nicht infrage, dass es eine freie Wahl des Bekenntnisses oder der Weltanschauung geben muss, sondern vielmehr, welches denn die legitimen Einschränkungen dieses Freiheitsrechtes sind. Das hat seit Beginn der 1990er Jahre die bundesdeutsche verfassungsgerichtliche Rechtsprechung7 zu Kruzifix und Kopftuch ebenso herausgefordert, wie die Europäischen Gerichte.8 Allerdings ging es in diesen Entscheidungen nicht um Abwägungen, die extremistische Exzesse betreffen würden, sondern religiöse Symbole im Kontext gesellschaftlicher Normalität. Für diesen Fall hat die Rechtsprechung Kriterien erarbeitet, die auf einen Interessenausgleich zwischen den Beschwerdeführern und den Gegnern des Rechtsstreits ausgerichtet ist. Die in diesem Kontext zur Sprache gebrachten Gefährdungen der Freiheitsrechte anderer liegen auf einer ganz anderen Ebene als jene, die die europäischen Gesellschaften angesichts des religiös motivierten Terrorismus bedrohen.

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Besonders (vorgeblich) religiös motivierte Fundamentalismen erscheinen als Nährboden für Gewalt und Unterdrückung vor allem dort, wo es um die Verdrängung der westlich-europäischen Einflüsse geht. In westlichen Gesellschaften sind es hingegen säkularistische Ideologien, welche die Religionen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen erstreben. Wachsender Populismus scheint zudem einem toleranten Verständnis von Religionsfreiheit in pluralen Gesellschaften entgegenzutreten. Minderheitenreligionen werden wieder Generalverdächtigungen ausgesetzt. Angst vor dem Fremden wird genährt durch Terror. Gleichwohl ist das Recht auf Religionsfreiheit auch und gerade in pluralen Gesellschaften die Bedingung der Möglichkeit individueller und kollektiver Freiheitsentfaltung im weiten Feld der Sinn- und Wahrheitssuche pluraler Weltdeutungen.9 Insofern erscheint das Eintreten für die Religionsfreiheit im Lichte seiner Gefährdungen heute dringlicher denn je.

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Der Grundrechtsschutz und hier insbesondere der der Religionsfreiheit, hat sich im Recht der Europäischen Gemeinschaft erst relativ spät entwickelt, vielleicht, weil man anfangs davon ausgegangen war, dass eine Wirtschaftsgemeinschaft solcher Regelungen nicht bedürfe, die im Übrigen sachlich bereits in den Länderverfassungen und in der UN-Menschenrechtsdeklaration enthalten sind. Die Zeiten haben sich geändert, vor allem seit es eben nicht mehr nur um eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern eine Staatengemeinschaft mit gemeinsamem Wertefundament geht. Diese ist gegenwärtig Gefährdungen ausgesetzt, wie nie zuvor. 

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Am 11.12.2017 berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die aktuellen Terrorismusgefahren in Deutschland. Nach den Auskünften des Verfassungsschutzes hat vor allem auch der salafistisch motivierte Terrorismus, bzw. die Bedrohung der freiheitlich demokratischen Grundordnung in den letzten Jahren nicht abgenommen, sondern angesichts der Gebietsverluste des IS im Irak und in Syrien Aktivitäten eher nach Europa verlagert.10 Kurz darauf berichtete eben diese Zeitung erneut über islamistischen Terrorismus und die Gefahren, die sich daraus vor allem in der deutschen Jugend ergeben. Dabei geraten, nachdem immer mehr Agitateure zu Haftstrafen verurteilt wurden, junge radikalisierte Frauen in den Blick, die in einem sog. "Schwesternnetzwerk" organisiert, die neue Führungsspitze des jihadistischen Salafismus bilden, das besonders aggressiv im Internet werbe.11 Angesichts dieser Bestandsaufnahme stellt sich die Frage, wie wehrhaft eine Demokratie angesichts dieser Gefährdungen im Lichte umfassender Gewährleistungen der Religionsfreiheit in Deutschland und Europa sein kann. Die Ergebnisse der hier anstehenden Beobachtungen können dabei von Land zu Land unterschiedlich ausfallen. Entsprechende Untersuchungen wurden dazu bereits in den letzten Jahren vorgelegt. Darauf sei an dieser Stelle verwiesen12. Denn bei allem Konsens über die Notwendigkeit der Gewährleistung von Religionsfreiheit als einem Menschenrecht im Sinne der UN-Menschenrechtsdeklaration und der EMRK, gibt es in Europa doch einige grundlegende Unterschiede in der rechtlichen Verortung, die den jeweiligen nationalen Gesetzgebern ebenso unterschiedliche Gestaltungsräume eröffnen. Daher gilt es, sich zunächst der verfassungsrechtlichen Typologien der Gewährleistung unseres Freiheitsrechts zu vergegenwärtigen, bevor eine Antwort auf die Frage gesucht wird, wie wehrhaft der europäische Rechtsraum der Freiheitsrechte angesichts der beschriebenen Gefährdungen überhaupt sein kann.

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1. Typologien der Gewährleistung von Religionsfreiheit in Europa

 

Im Kontext der Globalisierung und - trotz des bevorstehenden Brexit - dem aktuellen Ringen um eine fortschreitende (politischen) Einigung innerhalb Europas, das auch eine Vereinheitlichung der nationalen Rechtssysteme, wenigstens aber der rechtlichen Standards erstrebt, stellt sich die Frage nach den supranationalen Wechselwirkungen der religionsrechtlichen Grundrechtsgarantien. Hier zeichnet sich ein Mehrebenensystem ab, das neben einem universalen Völkergewohnheitsrecht, die universellen und partikularen, die Unterzeichner bindenden Menschenrechtsverträge (z.B. die UN-Menschenrechtserklärung, die EU-Menschenrechtcharta etc.), supranationale Menschenrechtsgarantien (Unionsgrundrechte) und schließlich die Grundrechte in den Landesverfassungen der Bundesländer umfasst.13

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Historisch haben sich in Europa dabei über Jahrhunderte drei Grundmodelle des Verhältnisses von Staat und Religionen herausgebildet, bei denen es auch in den Jahrzehnten seit dem Ende des 2. Weltkriegs in Europa geblieben ist. Diese Grundverhältnisse bestimmen auch unter den Zeichen europäischer Konvergenz in wichtigen Grundsatzfragen die Prinzipien der Verhältnisbestimmung und der Garantien religionsbezogener Freiheitsrechte, genauerhin der Religionsfreiheit und ihrer weiteren rechtlichen Ausformungen. Es handelt sich um folgende drei Modelle: a) Staats- und / oder Volkskirche, d.h. Identität oder weitreichende Überschneidung der Kompetenzbereiche von Staat und wenigstens einer Religion oder Konfession; b) Laizismus oder Laizität, d.h. die säkularistische Reaktion auf das Einheitsmodell, die als freundliche oder feindliche Bereichsscheidung identifiziert werden kann; c) Kooperation von Staat und Religionen in gegenseitiger Anerkennung der Autonomie der Sachbereiche, bei gleichzeitiger Anerkennung notwendiger und sinnvoller Zusammenarbeit im Lichte der Subsidiarität staatlichen Handelns.14 Entsprechend ihrer Traditionen bestimmen die europäischen Staaten im Rahmen dieser Grundmodelle ihr Verhältnis zu den angestammten und den sich neu etablierenden Religionen. Dabei ist es deutlich, dass es in keinem der EU-Länder ein Nichtverhältnis zu den Religionen gibt. Gerade auch im Licht zunehmender Terrorismusgefahren, die mit religiösen Motiven camoufliert werden, zeigen die Staatsorgane eine wachsende Sensibilität für religionsrechtliche Fragen. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass die eben angesprochenen Modelle tatsächlich nur ein Grundraster für eine annähernde Einordnung geben können, jedoch weit von einer realistischen Beschreibung der Rechtswirklichkeit entfernt sind.

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2. Juristische Orte der Gewährleistung von Religionsfreiheit

 

Die europarechtliche Verankerung der Religionsfreiheit in ihrer individualrechtlichen und kollektivrechtlichen Erscheinungsform ist von besonderer Bedeutung, weil dem Gemeinschaftsrecht nicht etwa ein Rechtsgestaltungs- sondern lediglich ein Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht zukommt.15 Das ergibt sich nach der Rechtsprechung des EuGH aufgrund der föderalen Konstruktion der EU.16 Unter den europarechtlichen Bestimmungen müssen in unserem Zusammenhang zwei Ebenen unterschieden werden: die Ebene des Europarats, zu dem fast alle europäischen Staaten gehören und die Ebene der Europäischen Union, zu der gegenwärtig (noch) 28 Staaten gehören.17

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Das primärrechtliche Fundament des EU-Rechts besteht aus dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), in dem der ehemalige EGV in revidierter Form aufgegangen ist. Ergänzt werden diese Verträge durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), die durch einen Verweis in Art. 6 EUV für bindend und mit den beiden Verträgen gleichrangig erklärt worden ist. Sie kodifiziert umfassende Grund- und Menschenrechte für das Handeln der EU. Gemäß Art. 51 GRC gilt sie für die Organe und Einrichtungen der EU hinsichtlich des Schutzes der Menschenwürde, der Freiheitsrechte (in unserem Kontext besonders hervorzuheben: Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), der Gleichheits- und Bürgerrechte und justizielle Rechte.

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Von grundlegender Bedeutung für die Gewährleistung der Religionsfreiheit in den EU-Staaten ist Art. 6 Abs. 2 EUV, wonach "die Europäische Union die Grundrechte achtet, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben."18 Diese Formulierung gewährleistet die Ermöglichung unterschiedlicher Rechtstraditionen bei gleichzeitiger Anerkennung der Grundtatsache, dass Religionsfreiheit als bipolares Grund- und Menschenrecht unbedingter Anerkennung aller Staaten bedarf, die in der EU vereint sein wollen. Auf europarechtlicher Ebene kommt sodann Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der EU (GRCh)19 in den Blick, der grundlegend, wie die überwiegende Mehrheit der nationalen Verfassungen der Mitgliedsstaaten, Religionsfreiheit nahezu textgleich zur der Formulierung in Art. 4 GG gewährleistet.

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Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

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Artikel 10 GRCh Artikel 4 GG
(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
  (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(2) Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln. (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

Juristisch entscheidend erscheint hier der Hinweis, dass es, abweichend von manchen eher unpräzisen Formulierungen in der der Literatur20, darauf ankommt, dass es sich nicht etwa um eine "Gewährung" dieses Freiheitsrechtes handelt, sondern eine "Gewährleistung" eines bereits vorkonstitutionell bestehenden Menschenrechts, das dem Individuum allein und in seinen Vergemeinschaftungen unmittelbar zusteht. Schließlich handelt es sich um ein Recht, dass als unmittelbarer Ausfluss aus der Menschenwürde erkannt werden kann, ganz unabhängig davon, nach welchen philosophischen oder theologischen Denkrichtungen, dem Einzelnen seine unbedingte Menschenwürde zuerkannt wird21. Diese Einsicht wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass das weltliche Verfassungsrecht im Unterschied z.B. zum kanonischen Recht der katholischen Kirche ein ganz und gar positives Recht darstellt22, dass im Letzten, jenseits der Debatte um die Unveränderbarkeit der Grundrechtsartikel 1-19 des Grundgesetzes, der freien gesetzgeberischen Verfügbarkeit des obersten Volkssouveräns unterliegt. Dieser Linie entspricht auch die Formulierung von Art. 19 Abs. 2 GG, wonach lediglich der Wesensgehalt eines Grundrechts nicht angetastet werden darf. Was aber der Wesensgehalt genauer ist, unterliegt oftmals auch der zeitgebundenen Auslegung der Verfassung durch Lehre und Rechtsprechung.23 Mit Blick auf die Umschreibung des Schutzbereichs der Menschenwürde kann im Verlauf der Kommentierung des Art. 1 GG in den letzten 20 Jahren eine Entwicklung wahrgenommen werden, die je nach Standpunkt, durchaus als eine Aushöhlung des Kerngedankens der Unverfügbarkeit in Richtung auf eine Zwecklichkeit aufgefasst werden kann.24 Der Positivierung verfassungsrechtlicher Normen kommt in der Verfassungsdogmatik weit höhere Bedeutung zu, als im kanonischen Recht.25 Im Kern weichen weltliche Staatsrechtslehre und kanonische Rechtslehre über die Frage der Beurteilung der Unverfügbarkeit des Wesensgehaltes von Normen deutlich voneinander ab, weil das kanonische Recht auch die Kategorie der im göttlichen Recht verankerten Normen kennt, seien sie der Schöpfungsordnung oder der Offenbarung zuzuordnen. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der Ordnungskonzeptionen bleibt die Kluft auch unüberwindbar.

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Die GRCh ist aber auch bei der Durchführung von Unionsrecht, bzw. seiner Umwandlung in nationales Recht durch die Mitgliedsstaaten zu beachten. Zu diesen Normen tritt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950, die in drei wichtigen Bestimmungen auf das Religionsrecht eingeht. Die EMRK ist in allen europäischen Ländern unmittelbar geltendes Recht, d.h., Teil-Nebenverfassungsrecht. Art. 9 garantiert umfassend die Religionsfreiheit.26 "In der umständlichen Formulierung des Art. 9 Abs. 1 EMRK kommt die Absicht zum Ausdruck, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit möglichst umfassend zu schützen. Grundsätzlich sollen alle Ausdrucksformen und Betätigungen vom Schutzbereich erfasst sein, solange nur ein religiöser oder weltanschaulicher Kern vorliegt."27 Demgegenüber erscheint Art. 18 AEM deutlich griffiger und nicht weniger konsistent.

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Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

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Art. 9 EMRK Art. 18 AEM
(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.

Der Textvergleich mit der UN- Menschenrechtsdeklaration zeigt, dass es sich in Art. 9 Abs. 1 EMRK der Sache nach um eine inhaltliche Übernahme der 1948 in Art. 18 AEM gefundenen Formel handelt. Diese Nähe plausibilisiert zudem die These von der gemeinsamen Geschichte von Art. 18 AEM und Art. 9 EMRK.28

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Mit Blick auf das deutsche Grundgesetz werden aber auch Unterschiede deutlich. Eine staatliche Indifferenz gegenüber dem religiösen und den Religionen, wie es etwa das Neutralitätsgebot des Art. 140 GG i.V.m. Art 137 Abs. 1 WRV formuliert, kennt die EMRK nicht.29 Das hat freilich seinen Grund in den unterschiedlichen Nähe- und Distanzverhältnissen der europäischen Staaten vor allem zu ihren traditionellen Religionen und Bekenntnissen. Ebenso, wie die nationalen Verfassungen, schützt Art. 9 EMRK in erster Linie das Individuum vor staatlichen Eingriffen. Die Rechtsprechung des EGMR weist deutlich in diese Richtung.30 Allerdings muss man auch berücksichtigen, dass bisher Religionsgemeinschaften keine Klage aufgrund von Art. EMRK in Straßburg eingereicht haben. Das verleitet einige Autoren zu der Einschätzung, dass die Frage der Konventionsfähigkeit der Religionsgemeinschaften hier nicht durch die Rechtsprechung hinreichend gesichert geklärt sei und man daher diese Frage letztlich nicht unbeschränkt bejahen könne.31 Auch wenn die EMRK strukturell vom Individuum her diesen Grundrechtsschutz entwickelt, handelt es sich zudem um ein korporationsrechtliches Grundrecht, das auch Personenmehrheiten jedweder juristischen Organisationsform, sei es ein Verein oder eine Körperschaft, ein Abwehrrecht verschafft, da in der Literatur unumstritten ist, dass auch juristischen Personen prinzipiell die Konventiosrechtsfähigkeit zuzusprechen ist.32 Es wäre nicht einsichtig nur mit Blick auf die Religionsfreiheit die Rechtsfähigkeit der Religionsgemeinschaften auszuschließen. Für diese Ansicht spricht, dass sich die EU-Kommission mit zahlreichen Beschwerden von Religionsgemeinschaften zu befassen hatte, in denen diese als Beschwerdeführer auftraten.33

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Art. 14 EMRK spricht sich auch im Hinblick auf die Religion und Weltanschauung für ein Diskriminierungsverbot aus.34

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Art. 14 EMRK: "Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten."

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Dabei darf dieses Diskriminierungsverbot nicht in ein Gleichbehandlungsgebot umgedeutet werden. Art. 14 EMRK lässt eine Ungleichbehandlung zu, verlangt dafür aber eine hinreichende Begründung. Lediglich eine Ungleichbehandlung ohne sachliche Begründung erfüllt den Tatbestand der Diskriminierung. Dabei zeigen die Entscheidungen des EGMR dass Ungleichbehandlungen aufgrund von Religionszugehörigkeit besonders streng bewertet werden. In einem österreichischen Fall wurde es als nicht gerechtfertigt angesehen, dass einer Religionsgemeinschaft als Erfordernis für die Anerkennung aufgegeben wurde, über einen bestimmten Mindestzeitraum bestanden zu haben.35 Besonders interessant sind die Entscheidungen zu Ungleichbehandlungen von Muslimen und Muslimas in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Dabei darf die Religionszugehörigkeit bei Entscheidungen über Einstellung, Versetzung, Kündigung etc. nicht berücksichtigt werden, außer wenn es sich um Religionsgemeinschaften als Arbeitgeber handelt, die hier religionsbezogene Notwendigkeiten namhaft machen können. Im öffentlichen Dienst sind Einschränkungen aufgrund des Tragens religiöser Symbole nur dann gerechtfertigt, wenn das Tragen des Symbols mit dem hoheitlichen Handeln konkurriert, oder der staatliche Erziehungsauftrag für die Jugend - mit Ausnahme des Religionsunterrichts - nicht mehr religionsneutral gewährleistet erscheint. In allen Fällen bedarf es aber zur gerechtfertigten Ungleichbehandlung einer gesetzlichen Grundlage. Andernfalls läge ein Tatbestand der Diskriminierung vor.36

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Das 1952 verabschiedete Zusatzprotokoll zur EMRK sichert, in weiterer Entfaltung des in der Religionsfreiheit schon immanenten Rechts, in Art. 2 den Eltern oder ihnen rechtlich gleichstehenden Personen das Recht auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu.37 Diese Bestimmung entspricht sachlich dem umfassenden elterlichen Erziehungsrecht aus Art. 6 GG, das im Hinblick auf die religiöse Erziehung in der Schule in Art. 7 Abs. 3 GG noch seine Spezialisierung entfaltet. Insofern stimmen hier Unionsrecht und das nationale deutsche Recht weitestgehend miteinander überein, wobei die nationalen Regelungen für Deutschland spezifischer erscheinen, als die europarechtlichen.

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Art. 10 Abs. 1 GRCh entspricht auch in seiner deklaratorischen Sprachform dem durch Art. 9 EMRK garantierten Recht auf Religionsfreiheit. Die Vertragsschließenden von Lissabon haben nach langem Ringen um einen europäischen Verfassungsvertrag doch schließlich ein wiederholtes Mal Einigkeit darüber erzielt, dass das Freiheitsrecht der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit in einer offenen religionsneutralen staatlichen Ordnung nicht zur Disposition gestellt werden darf. Der Staat hat in seiner notwendigen Säkularität die religiösen und weltanschaulichen Werthaltungen seiner Bürgerinnen und Bürger zu achten. Freilich gilt das nicht schrankenlos.

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3. Zu den Schranken der Religionsfreiheit im Europäischen Ordnungssystem

 

Grenzen individueller und korporativer Religions- und Weltanschauungsfreiheit legt uns Art. 1 Abs. 1 GRCh nicht vor. Das erscheint hier auch nicht notwendig, weil der Verfassungsvertrag von Lissabon nicht direkt auf die Gewährleistung der angesprochenen Freiheitsrechte für die EU-Bürger oder ggf. alle Menschen gerichtet ist, sondern auf das Setzen von Standards für die Gemeinschaft der einzelnen souveränen Staaten und deren verfassungsmäßiger Ordnungen. Das wurde gerade im Zuge der Osterweiterung der EU nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erforderlich. Mitglieder der EU verpflichten sich auf die Einhaltung dessen, was in Lissabon 2007 vereinbart wurde. Wer später hinzukommt, hat dem Vertrag, ebenso wie anderen Regelwerken der Gemeinschaft beizutreten. Die Schranken der in Art. 10 Abs. 1 GRCh formulierten Rechte werden in Art. 9 Abs. 2 EMRK näher beschrieben: "Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer." Auch diese Formulierung erscheint im Lichte der ständigen Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 4 i.V.m. Art. 19 GG nicht neu. Sie ist auch notwendig. Das gilt insbesondere mit Blick auch die in Europa ansteigende Bereitschaft zu religiös motivierter Radikalisierung, welcher sich ein säkularer Staat zur Wehr setzen können muss. Allerdings muss auch betont werden, dass der Schutzzweck der Grundrechte zum Persönlichkeitsschutz, zu dem auch die Religionsfreiheit gehört, sich gegen Eingriffe durch die Unionsorgane und die Mitgliedsstaaten richtet38, nicht aber einen Abwehranspruch des Bürgers gegen andere Bürger begründet.

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Auf der Ebene des Grundgesetzes stellen wir fest, dass Art. 4 GG verfassungsimmanente Schranken enthält, die vor allem im Hinblick auf die Grundrechte anderer und den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland Gestalt gewinnen. Die zum Wesen von Religionen gehörenden Wahrheitsansprüche können sich daher nur an den individuellen Gläubigen im Schutzraum seines Bekenntnisses richten, nicht aber als Forderung zur gesellschaftlichen Durchsetzung geltend gemacht werden. An dieser Stelle hat der Staat eine Schutzpflicht, allen seinen Bürgern eine Pluralität von religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen zu ermöglichen und etwaige Übergriffe abzuwehren.39

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Daraus ergibt sich ein gewisses rechtssystematisches Problem hinsichtlich der Abwehr religiös motivierter Gewalt, die auf dem Nährboden religiösen Extremismus heranwächst.

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4. Religionsfreiheit im islamischen Rechtsverständnis

 

Bevor in diesem Zusammenhang über Islam gesprochen wird, muss festgehalten werden, dass es nicht nur nach dem Selbstverständnis der Muslime, sondern auch unter den Bedingungen des Grundgesetzes weder den Islam gibt, noch die Islamverbände.40 Gleichwohl gibt es islamische Grundkonstanten, wie den Koran, die Hadith und die Schariah41, die je nach bekenntnisgebundener Interpretation einen bestimmten Grad an Verbindlichkeit für sich beanspruchen. Im Unterschied zu anderen religiösen Rechten regelt das islamische Recht sowohl religiöse als auch säkulare Materien.42 Bisweilen ist eine Trennung der beiden Rechtsbereiche kaum durchführbar, so. z.B. wenn es um die Frage der Freien Religionswahl geht. Hier wird Apostasie, ein klassisches religiöses Delikt in vielen islamischen Staaten bzw. Regionen auch strafrechtlich geahndet.43 Die stärkste rechtliche Ausprägung des Islam findet sich in sunnitischen Literatur.44 Allerdings richtet sich auch hier die Autorität der Quellen nach dem Grad der Anerkennung durch die jeweiligen Rechtsschulen. Diese Traditionen gilt es zu bedenken, wenn man die gemeinsamen Grundkonstanten des islamischen Rechts über die konfessionellen Grenzen hinweg in den Blick zu nehmen beabsichtigt.45 Dabei besteht selbst innerhalb der islamischen Bekenntnisse keine Einigkeit darüber, welche interpretatorischen Methoden und Kunstgriffe für eine anerkannte Interpretation des islamischen Rechts erlaubt sind.46

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Höchst unterschiedlich wird daher auch die Aussage des Koran interpretiert: "Es gibt keinen Zwang in der Religion" (Sure 2,256). Die klassische kasuistische Koranexegese des 13. Jahrhunderts erkennt hier nur eine Duldung für Juden und Christen.47 Zeitgeschichtliche und moderne Koranexegese oszillieren zwischen einer wörtlichen und einer kontextuellen Auslegung des Verses. Während die wörtliche Auslegung jegliche Religionsfreiheit zurückweist, will die kontextuelle Auslegung Religionsfreiheit in dieser Sure zusammen mit einer Klausel aus Sure 6 über das Bekenntnis zu Allah erkennen.48 Diese lautet, dass: "[...] niemand die Last eines anderen trägt" (6,164). Die Lehrmeinungen weichen auseinander und sind nicht miteinander versöhnbar. Die Grundaussage aus Sure 2 wird immer wieder als Beleg für eine positive Einstellung des Islam zur Religionsfreiheit herangezogen. Man könnte diesen Satz auch so gelten lassen, wenn man ihn nicht in seinem Sinn und Kontext in der Sure 2 verstehen können müsste. In diesem Kontext erschließt sich unmittelbar, dass es um die Freiheit der Bekehrung zum Islam geht, da alle anderen Religionen dem Islam gegenüber als inferior bewertet werden und deren Angehörigen allenfalls Duldung gewährt wird. Innerreligiös erscheint dieser Exklusivitätsanspruch nicht als problematisch. Anders verhält es sich jedoch, wenn dieser Satz zur Grundlage genommen wird, religiöse Pluralität nicht zuzulassen.

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Sind Menschen- und Grundrechte relativ? Diese Ansicht wird vor allem seit den 1980er Jahren im Lichte des erwachenden Selbstbewusstseins außereuropäischer und außeramerikanischer Kulturen immer wieder erhoben.49 Vor allem, die seit rund 15 Jahren sich verstärkende Debatte um religiös motivierten Extremismus, hat die Frage erneut aufgeworfen, ob diese Idee tragend sein kann. Letztlich geht es bei der vor allem aus dem muslimisch-arabisch geprägten Kulturkreis Debatte, der mit der Kairoer Erklärung über die Menschenrechte im Islam vom 4. August 199050 einen Kontrapunkt zur Universalität und Dominanz westlicher Kulturvorstellungen zu setzen beabsichtigte, um die alte Frage von Superiorität und Inferiorität im Verhältnis von Staat und Religion. Hier wird nämlich in Art. 1 KEM die Geltung der Menschenrechte unter einen Schariah-Vorbehalt gestellt, der letztlich die Superiorität der religiösen Autoritäten über die säkularen festigt. Diese selektive Weltsicht ist in der westlich-abendländischen Kultur mit dem Zeitalter der Aufklärung überwunden worden.

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Die Religionen des Westens erheben durch diesen Prozess, freilich auch nicht ganz freiwillig, aber insofern transformiert und geläutert, nicht mehr den Anspruch letzte Instanz für Fragen zu sein, die in die Zuständigkeit des säkularen Staates fallen. Diese Religionen erkennen bei allem religiösen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch an, dass dem Staat Autonomie in der Rechtssetzung zukommt. Das gilt auch und gerade für Grund- und Menschenrechte. Hier fällt den Religionen die Aufgabe zu, diesen unbedingten Rechtsprinzipien eine Rechtfertigung aus der eigenen Weltdeutung zu vermitteln. Religionsfreiheit als Menschenrecht bedarf der Konzeption freiheitlicher Gesellschaften, die eine Vielfalt von Religionen und Weltanschauungen in friedlicher Konkurrenz Raum geben.51

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Schließlich ist zu vermerken, dass die Kairoer Erklärung das Menschenrecht auf Religionsfreiheit nicht kennt. Art. 10 KEM etabliert im Gegensatz zu den westlichen Freiheitsvorstellungen lediglich eine Freiheit zum Islam, ohne anderen Religionen und Bekenntnisses überhaupt einen Rechtsraum bereit zu halten.52 Dieser Konzeption wohnt zweifelsfrei eine dem Islam immanente Logik des absoluten Wahrheitsanspruchs inne, welche allerdings den interreligiösen Dialog nicht fördern kann.

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Diesen theologischen und islamisch-rechtlichen Begründungsrahmen verwenden religiös motivierte Extremisten mit verzerrten Argumentationen zur Attrahierung und Rekrutierung junger Menschen aus marginalisierten Milieus. Sie verheißen eine Ideologie der Exzellenz und Exklusivität, in der die Marginalisierungserfahrung zur elitären Bewusstseinsbildung transformiert wird.53

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Der säkulare Verfassungsstaat, gerade wenn er sich religionsneutral und paritätisch versteht, muss von allen Religionen, die sich um eine rechtliche Anerkennung bemühen verlangen können, dass die in Artt.  4, 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV grundgelegten Prinzipien der Anerkennung des rechtlichen Rahmens religiöser Freiheitsrechte von den Religionsgemeinschaften trotz ihrer immanenten theologischen Wahrheitsansprüche für die säkulare Gesellschaft uneingeschränkt anerkannt wird.54 Eine Relativierung dieser Verfassungsprinzipien muss zumindest unter der Geltung des Grundgesetzes die rechtliche Nichtanerkennung entsprechender Gemeinschaften zur Folge haben. Das gilt sowohl aufgrund der verfassungsimmanenten Schranken des Art. 4 GG als auch aus Gründen der Gemeinwohlverpflichtung des Staates.

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5. Folgen der Relativierung des Menschenrechts der Religionsfreiheit

 

Im Kontext der Kairoer Erklärung wird Religionsfreiheit verkürzt zum Bekenntnis zur wahren Religion. Freiheit existiert nur mehr insofern, als es die Freiheit zur Hinwendung zum Islam und dort in der spezifischen Form der vorgetragenen Lehre meint. Daneben gibt es nur noch Sünde und Abfall. Beide sind zu bekämpfen, je nach der Überzeugung der betreffenden Rechtsschule oder Moscheengemeinde mit einer Varianz von der Todesstrafe bis hin lediglich zur Verstoßung aus der Gemeinschaft. Während viele Religionsgemeinschaften die Apostasie als religiöses Delikt mit dem Ausschluss aus der religiösen Gemeinschaft ahnden, welche keinerlei bürgerlichen Wirkungen nach sich zieht, führen Fatwas zu religiöser und gesellschaftlicher Verfolgung, die integral in die Freiheitsrechte der Menschen eingreifen, bis hin zu einem Angriff auf das Leben und die Freiheit des Individuums. In diesem Zusammenhang stellt sich nachdrücklich die verfassungsrechtliche Frage nach den Grenzen tolerabler, religiös motivierter Bekundungen.

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Angesichts der Tatsache, dass Moscheengemeinden in einigen deutschen und europäischen Städten und Ballungsräumen seit vielen Jahren als Nährboden für salafistischen Extremismus identifiziert werden, stellt sich die Frage, ob der staatliche Auftrag des Schutzes der Bürger vor religiös motivierter Gewalt die erkennungs- und geheimdienstliche Observierung und ggf. auch die Schließung entsprechender Einrichtungen rechtfertigt. Wenn es richtig ist, dass der Religionsfreiheit zwar ein unbedingter Schutz zukommt, so liegen die Grenzen dieser Freiheit doch in der Verwirklichung der Freiheitsrechte der übrigen Bürger. Mit Blick auf den Salafismus müssen hier drei verschiedene Erscheinungsformen unterschieden werden. Der puristische Salafismus erscheint in einer rein intellektuellen Gestalt und erstrebt gewaltfrei die Übereinstimmung des individuellen Lebens der Muslime mit der reinen Lehre, der Salafiyya.55 Der politische Salafismus richtet sich auf die Veränderung des politischen Systems in einem Staat nach Maßgabe der reinen Lehre und der Disziplin von Koran und Umma. Dabei wird Gewalt als Mittel der Systemveränderung nicht anerkannt.56 Anders verhält es sich beim jihadistischen Salafismus der den heiligen Krieg gegen alle ausruft, die nicht der reinen Lehre folgen. Diese Form des Salafismus kann als aktueller Reflex auf die mittelalterliche Kreuzzugsideologie des Westens verstanden werden. Er gehorcht in etwa denselben Archetypen, bis in die Sprache hinein.57 Lediglich dieser gewaltverherrlichende und zu Jihad aufrufende Salafismus erfordert notwendig das Eingreifen des Staates, um einem religiös motivierten Terrorismus zu begegnen.

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Dabei geht es umfassend um den Schutz der Bürger auf zwei Ebenen: den Schutz der Allgemeinheit vor Gewaltexzessen und den Schutz jener marginalisierten Jugend, die so verzwecklicht und missbraucht wird. Dieser Schutz kann auf drei Ebene erfolgen: Gesetzgebung, Erziehung und Betreuung. Dabei kommt der Gesetzgebung auf europäischer Ebene eine wichtige Koordinationsfunktion für das tiefer gestaffelte nationale Recht zu. Eine Zusammenarbeit in diesem Feld erscheint aber unabdingbar, um vor allem der Cyberkriminalität in Internet und Darknet mehr und mehr den Boden zu entziehen. Freilich werden sich die Effekte erst mit der Zeit einstellen. Zügiger könnten die Erfolge in den Felder der Erziehung und Betreuung positive Wirkung zeigen. Im Hinblick auf die Religionsfreiheit wäre nachhaltiger als bisher dafür zu optieren, den Schülerinnen und Schülern muslimischen Glaubens einen eigenen vom Staat organisierten und den muslimischen Gemeinden inhaltlich verantworteten Religionsunterricht anzubieten. Freilich würde auch hier gelten müssen, dass die Religionslehrerausbildung denselben rechtlichen Anforderungen genügt, wie jenen für die christlichen Religionslehrer/innen. Das Problem liegt hier gegenwärtig weniger in der Bereitschaft des Staates als in der Uneinigkeit der muslimischen Gruppen, sich hier auf einen neuen Weg zu begeben. Warum sollten nicht auch Muslime konfessionell kooperativ zusammenarbeiten können, wenn das für die christlichen Konfessionen seit Jahrzehnten möglich ist? Hier gilt es theologische und ideologische Grenzen zu überwinden. Diese Aufgabe können die muslimischen Gemeinden aber nur selbst bewältigen. Schließlich geht es auch um die Betreuung, vor allem der marginalisierten Jugend, die in der Gefahr steht, sich dem jihadistischen Salafismus zuzuwenden. Dabei müssen Jungen und Mädchen altersgerecht und sozialadäquat zu ihrer Peergroup angesprochen werden. Während es bei den Jungen vor allem darum geht Heldenmythen zu dekonstruieren, muss den Mädchen deutlich gemacht werden, dass ihre Radikalisierung Freiheit und Selbstbestimmung zerstört.

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6. Fazit

 

Die Frage des Schutzraumes der Religionsfreiheit im europäischen Grundrechtsraum lässt sich mit dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht, Dieter Grimm kurz und präzise auf die Formel bringen: "Kein Glaube muss mit dem Grundgesetz vereinbar sein, aber nicht alles, was ein Glaube fordert, darf unter dem Grundgesetz verwirklicht werden."58 Was hier für das deutsche Grundgesetz formuliert ist, gilt im Lichte von Art. 9 EMRK und Art. 10 GRCh in gleicher Weise für den gesamten europäischen Grundrechtsraum, unbeachtlich der Beantwortung der Frage, welches der drei Grundmodelle des Verhältnisses von Staat und Religion, wie auch immer in dem jeweiligen Gemeinwesen verwirklicht ist. Der europäische Grundrechtsraum muss ein Ort sein, in dem eine Pluralität von Weltanschauungen und Religionen individuell und kollektiv ohne Bedrohungen von außen oder innen gelebt werden kann. Aufgabe der Staaten und der europäischen Staatengemeinschaft ist es, diesen Rechtsraum zu bewahren und seine Bürger hinlänglich zu schützen, wissend, dass es absoluten Schutz und absolute Sicherheit nicht geben kann.

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* Dem Beitrag liegt ein Gastvortrag anlässlich der Sessio sollemnis des Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München am 6. Februar 2018 zugrunde.

1 Vgl. Daniel Ottenberg, Der Schutz der Religionsfreiheit im internationalen Recht, SSIR 40, Baden-Baden, 2009, 68.

2 EGMR, Campbell & Cosans v. United Kingdom, Application no. 7511/76 & 7743/76 vom 25. Februar 1982.

3 Vgl. Heiner Bielefeldt, Streit um die Religionsfreiheit. Aktuelle Facetten der internationalen Debatte, Erlanger Universitätsreden Nr. 77/2012, 3. Folge.

4 Ferdinand Kirchhoff, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, in: NJW 64, 3681-3689, 3682.

5 Ansgar Hense, Auf dem Weg zu einem europäischen Religionsverfassungsrecht? - Aktuelle Überlegungen aus deutscher Perspektive, in: Ines-Jaqueline Werkner, Antonius Liedhegener (Hg.), Europäische Religionspolitik. Religiöse Identitätsbezüge, rechtliche Regelungen und politische Ausgestaltung, Wiesbaden 2013, 175-196, 176.

6 Vgl. Hense (Fn. 5), a.a.O., 186.

7 Vgl. BVerfG, Kruzifixurteil:  BVerfG, Urteil vom 16.Mai 1995 - 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1; Kopftuchurteil: BVerfG, Urteil vom 24. September 2003, Az. 2 BvR 1436/02; BVerfGE 108, 282.

8 Vgl. EGMR Kruzifixurteil: Lautsi and others v. Italy, Application no. 30814/06; EuGH, Kopftuch am Arbeitsplatz: EuGH Urteil vom 14.März 2017, Az. C-157/15.

9 Vgl. Marianne Heimbach-Steins, Religionsfreiheit, ein Menschenrecht unter Druck, Paderborn 2012, 11-18.

10 Vgl. Berichterstattung der FAZ vom 10.12.2017.

11 Vgl. Reiner Burger, Der Kampf um die Köpfe, in: FAZ vom 27.12.2017, 3.

12 Vgl. Hans-Tjabert Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, in: Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht 22, Frankfurt 1998, 87-297.

13 Vgl. Bodo Pieroth, Bernhard Schlinck, Thorsten Kingreen, Ralf Poscher (Hrsg.), Grundrechte. Staatsrecht II, München 322016, 45-60.

14 Vgl. Axel v. Campenhausen, Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, München 42006, 338-357. Für eine Reihe europäischer Staaten nimmt Vachek unter Hinweis auf die notwendigen Trennungsunschärfen eine Zuordnung vor: Marcel Vacek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, online edition: http://www.ra-arzthaftung.de/download/vachek_-_religionsrecht_der_eu.pdf, 32-53 (Zugriff: 22.12.2017).

15 Vgl. Vachek (Fn. 14), a.a.O., 114.

16 EuGH, 15.07.1964 - 6/64Rs. 6/64 Slg. 1964, 1251 - zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht, online: http://ig.cs.tu-berlin.de/oldstatic/rs/EuGH/costa-enel1964.html (Zugriff: 2.9.2015).

17 Vgl. Matthias Pulte, Grundfragen des Staatskirchen- und Religionsrechts, MBKR 1, Würzburg 2016, 31.

18 Katharina Stürz, Die staatliche Förderung der christlichen karitativen Kirchentätigkeit im Spiegel des europäischen Beihilferechts, Gießen 2007, 37.

19 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Abl. der Europäischen Gemeinschaften v. 18.12.2000 [DE], C 364/01.

20 So etwa bei Markus Graulich, Christentum und Europa - die Perspektive des kanonischen Rechts, in: Günter Buchstab, Rudolf Uertz (Hg.), Was eint Europa? Christentum und kulturelle Identität, Freiburg 2008, 72-94, 77.

21 Vgl. den positivistisch-autonomistischen Ansatz von Stephan Goertz, Streitfall Diskriminierung. Die Kirche und die neue Politik der Menschenrechte, in: HerKorr 67 (2013), 78-83; dagegen klassisch kantianisch-deontologisch: Karl-Heinz Menke, Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr?: Eine Streitschrift. Regensburg 2017, 16.

22 Vgl. Otto Depenheuer, Die Säkularität des Staates und die religiösen Werthaltungen des Bürgers, in: Günter Buchstab, Rudolf Uertz (Hg.), Was eint Europa? Christentum und kulturelle Identität, Freiburg 2008, 56-71, 57.

23 Vgl., Jarass, in: Jarass, Pieroth (Hg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, München 62002, 471.

24 So etwa: Matthias Herdeggen, Kommentar zu Art. 1 GG in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, 812017; grundlegend anders: Günter Dürig, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Sonderdruck, München 2004.

25 Vgl. Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, Paderborn 2009, 78.

26 Weiterführend dazu: Antje von Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit in Europa, JE 86, Tübingen 2008, 43-75.

27 Pascal Hector, Zur Religionsfreiheit in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Europainstitut, 249-267, 249.

28 Vgl. Conring (Fn. 12), a.a.O., 333, mit weiteren Nachweisen.

29 Vgl. Hense (Fn. 5), a.a.O., 186.

30 Vgl. Hector (Fn. 27), a.a.O., 267.

31 Vgl. Stürz (Fn.18), a.a.O., 46.

32 Vgl. Wolfgang Peukert, Kommentar zur Art. 25 Rn. 9, in: Jochen Frowein, Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK Kommentar, München 32009.

33 Vgl, Conring (Fn. 12), a.a.O., 339-352.

34 Ebd. 79-86.

35 Vgl. EMRK, Zeugen Jehovas v. Austria, Entscheidung vom 31.Juli 2008,

36 Vgl. Dorothee Frings, Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben - Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen Diskriminierungen von Musliminnen und Muslimen im Arbeitsleben und das AGG, Berlin 2010, Zusammenfassung.

37 Vgl. Conring (Fn. 12), a.a.O., 75-79.

38 Vgl. Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, Berlin, Boston 42014, 70.

39 Vgl. Dieter Grimm, Grundgesetzlich irrelevant, in: FAZ vom 22.4.2016, online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/islam-vs-grundgesetz-debatte-ueber-religionsfreiheit-14191706-p2.html?printPagedArticle=true#pageIndex_1.

40 Vgl. Hans Michael Heinig, Säkular, aber nicht säkularistisch, in FAZ vom 8. Januar 2018, 6.

41 B. J. Berkmann weist darauf hin, dass gerade auch der Begriff Schariah ein ganzes Bündel an rechtlichen und moralischen Normen umschließt. Vgl. Burkhard Josef Berkmann, Internes Recht der Religionen, Stuttgart 2018, 126.

42 Vgl. Rüdiger Lohlker, Islamisches Recht im Wandel, Münster 1999, 2.

43 Vgl. Johannes Harnischfeger, Demokratisierung und islamisches Recht: der Scharia-Konflikt in Nigeria, Frankfurt/M. 2006, 109.

44 Vgl. Burkhard Berkmann (Fn. 41), a.a.O., 64f.

45 Anerkannt sind heute acht Rechtsschulen: vier sunnitische, die Hanafiyya, die Malikiyya, die Schafiiyya und die Hanbaliyya, zwei schiitische, die Dschafariyya und die Zaidiyya, sodann die Ibadiyya (Staats-Rechtsschule in Oman) und die Zahiriyya (ohne aktuelles Verbreitungsgebiet).

46 Ebd. 147f.

47 Vgl. Anonymisiert, Religionsfreiheit und Apostasie im Islam, hg. Vom Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Berlin 2006, 6-9.

48 Vgl. ebd. 12 f.

49 Vgl. Daniel Ottenberg, Der universale Schutz der Religionsfreiheit, Baden-Baden 2009, 20.

50 Vgl. Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, online in deutscher Übersetzung: http://paxeuropa.de/wp-content/uploads/Kairoer-Erklaerung-der-OIC-2.pdf (Zugriff: 22.12.2017). 

51 Vgl. Heiner Bielefeldt (Fn. 3), a.a.O., 24.

52 Artikel 10 KE: "Der Islam ist die Religion der reinen Wesensart. Es ist verboten, irgendeine Art von Druck auf einen Menschen auszuüben oder seine Armut oder Unwissenheit auszunutzen, um ihn zu einer anderen Religion oder zum Atheismus zu bekehren."

53 Vgl. Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen (ed.), Extremistischer Salafismus: Ursachen, Gefahren und Gegenstrategien, Düsseldorf, 72015, 8-10.

54 Vgl. Heinig (Fn. 40), a.a.O., 6.

55 Vgl. Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen (ed.), Extremistischer Salafismus: Ursachen, Gefahren und Gegenstrategien, Düsseldorf, 72015, 8-10

56 Vgl. Sonja Abel, Salafismus bei Mädchen in Deutschland, Hannover 2015, 13.

57 Vgl. Guido Steinberg, Wer sind die Salafisten?. Zum Umgang mit einer schnell wachsenden und sich politisierenden Bewegung, in: Stiftung Wissenschaft und Politik - Aktuell 28 (2012), 2-4.

58 Dieter Grimm (Fn. 39), a.a.O.