Hat Geschichte Folgen?

Staat, Gesellschaft und katholische Kirche nach zehn Jahren deutscher Einheit

Von Bernd Schäfer

 

(Vortrag, gehalten anläßlich der Mitgliederversammlung des Geschichtsvereins der Diözese Rottenburg-Stuttgart am zehnten Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung, Stuttgart-Hohenheim, Tagungshaus der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 3. Oktober 2000)

 

Inhalt

  1. Ein ostdeutsches Kirchenbewußtsein
  2. Gesamtdeutsche Kirchenkontakte
  3. Die Finanzen
  4. Ausblick auf das Staat-Kirche-Verhältnis
 

Vor etwas mehr als zehn Jahren, im September 1990, trat die "Berliner Bischofskonferenz", wie der durch den Vatikan 1976 errichtete Zusammenschluß der katholischen Ordinarien in der DDR und West-Berlin firmierte, der Deutschen Bischofskonferenz bei und löste sich damit auf. Mit dieser symbolischen Aktion noch vor der am 3. Oktober 1990 begangenen staatlichen Einheit sollte demonstriert werden, daß sich die Katholiken in Deutschland in besonderem Maße selbstverständlich und unkompliziert nach Jahren der Trennung vereinigen. Man postulierte sogar, faktisch sei die katholische Kirche niemals getrennt gewesen. Der Vatikan habe zu keiner Zeit die Kirchengrenzen in der DDR den Staatsgrenzen angepaßt. Gesamtdeutsche Kirchenkontakte seien auch nach dem Mauerbau von 1961 stets aufrecht erhalten worden und hätten die geistige Einheit von Katholiken in Ost und West bewahrt. Nicht zuletzt sei gerade das Bistum Berlin, das kirchenrechtlich niemals geteilt gewesen war und stets einem gemeinsamen Bischof unterstanden hatte, eine "Klammer der deutschen Einheit" gewesen.

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Im Januar 1995 führte die bischöfliche Kommission für Zeitgeschichte in Berlin eine ihrer sogenannten "Klausurtagungen" mit kirchlichen Zeitzeugen aus Ost und West und ausgewählten Wissenschaftlern durch und gab dieser Veranstaltung den Titel "Der Katholizismus - gesamtdeutsche Klammer in den Jahrzehnten der Teilung". Dieser Titel wurde jedoch mit einem Fragezeichen versehen und von den Einladenden darauf hingewiesen, daß man erst in jüngster Zeit sich der bisher völlig unvermuteten Tatsache bewußt geworden sei, dieses Satzzeichen sei angemessen. Auch nach der Tagung fand sich das Fragezeichen in dem Titel eines gleichnamigen Sammelbandes wieder.

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Um sich mit der Berechtigung dieser und anderer Satzzeichen hinter plakativen Thesen und Postulaten im Zusammenhang mit der "deutschen Einheit" auseinander setzen zu können, sind die Ergebnisse jüngster Geschichtsforschung hilfreich in empirischer Hinsicht und durchaus therapeutisch hinsichtlich aktueller Befindlichkeiten. Doch bei weitem nicht nur in den Kirchen ist die Bereitschaft zur Selbsterkenntnis gering ausgeprägt, wo es sich doch mit Mythen eindeutiger und somit scheinbar bequemer lebt.

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Aber Geschichte hat Folgen, um schon jetzt eine Antwort auf die Fragestellung meines Vortrages zu geben - was sich auch am Beispiel der katholischen Kirche in Deutschland vor und nach 1990 vielfältig zeigen läßt. Mein Schwerpunkt wird dabei auf der Historie und der ostdeutschen Seite liegen, denn diese Perspektiven erscheinen mir angesichts eines die Analyse oft bestimmenden Praesentismus unterbelichtet zu sein.

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Damit kausale historische Zusammenhänge erst eruierbar werden können, mußte nicht nur die DDR als Staat zusammenbrechen, sondern auch ihr Herrschaftswissen zugänglich werden. Es bedurfte dazu vieler mutiger Menschen in zahlreichen großen und kleinen Städten Ostdeutschlands, die seit Anfang Dezember 1989 staatliche und politische Behörden in der DDR besetzten, insbesondere solche des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie erzwangen die Aufbewahrung und Versiegelung historischen Aktenmaterials, dessen Nutzung in den Folgejahren durch die bundesdeutsche Archivgesetzgebung und das Stasi-Unterlagengesetz zur Einrichtung der sogenannten "Gauck-Behörde" geregelt wurde. Die Versuche von Regierung und Parteien der alten Bundesrepublik, diese Archivalien entweder in das Koblenzer Bundesarchiv zu transferieren oder sie mit den im Westen üblichen Sperrfristen zu belegen, scheiterten am damaligen partei- und bevölkerungsübergreifenden Willen des Ostens zur Aktenöffnung.

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So drang auch der Vatikan in seiner Eigenschaft als Heiliger Stuhl mit seinem Anliegen nicht durch, das er durch die Bonner Nuntiatur dem Katholischen Büro antragen ließ: Mit staatlichen Archiven und der "Gauck-Behörde" sei zu verhandeln, alle ihn betreffenden Unterlagen auszusondern.

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Da solche Akten auch vielerlei Informationen zu den Kirchen in der DDR enthielten, sahen sich letztere veranlaßt, ihre partiellen Parallelüberlieferungen ohne Sperrfristen zugänglich zu machen. Für das entsetzte Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn war dieses "sträflichen Leichtsinn" und unerquickliche Präzedenz für westdeutsche Kirchenarchive. Mit dem Gutachten eines Münchner Kirchenrechtlers wurde angeblich "bewiesen", daß die "Berliner Bischofskonferenz" 1990 mit ihrem Beitritt zur Deutschen Bischofskonferenz auch ihr gesamtes Eigentum dieser übertragen habe: Also seien sämtliche Archivbestände, sofern sie nicht explizit diözesan waren, dem Archiv der Deutschen Bischofskonferenz in Köln zu übergeben. Diesen Aktentransfer von Ost nach West konnten die ostdeutschen Bischöfe nur mit dem Hinweis auf eine Schlichtung des Streits durch den Vatikan verhindern. Ein solches Risiko wollte die Deutsche Bischofskonferenz nicht eingehen, und man einigte sich unter Ausklammerung der Eigentumsfrage auf den Kompromiß der Errichtung eines "Regionalarchivs Ordinarien Ost" in Erfurt mit den von Mißtrauen gegenüber unabhängigen Forschern geprägten westdeutschen Zugangsbestimmungen, die inzwischen in Kombination mit spezifischen Erfurter Ordinariats-Zensurregularien leider den Wert dieses Archivs für die historische Forschung über die Zeit nach 1945 erheblich relativiert haben.

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Dennoch ist die staatliche Überlieferung der DDR allein zur katholischen Kirche, mit quantitativen wie qualitativen Unterschieden für die verschiedenen Jahrzehnte nach 1945, so umfangreich, daß sich ohne Abstriche die Feststellung treffen läßt: Kein Innenleben einer katholischen Ortskirche weltweit ist durch eine externe Überlieferung so nachvollziehbar wie dasjenige der kleinen katholischen Kirche in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1989.

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Welchen historischen Mustern aus der Zeit der deutschen Teilung, die selten als solche reflektiert werden, kann nun eine Folgewirkung bis in unsere Gegenwart attestiert werden?

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Lassen Sie mich drei historische Linien zeichnen, um danach zur gegenwärtigen Situation im bundesdeutschen Staat-Kirche-Verhältnis zu gelangen. Ich will mich zunächst äußern zum in der DDR gewachsenen ostdeutschen Kirchenbewußtsein und dann zur damit zusammenhängenden Problematik der gesamtdeutschen Kirchenkontakte und zur Rolle der Finanzen vor und nach 1990.

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1. Ein ostdeutsches Kirchenbewußtsein

Die Differenzen innerhalb der katholischen Ordinarien in der SBZ über den taktisch angemessenen Umgang mit den SED-dominierten Behörden und Massenorganisationen entstanden zeitgleich mit der anhebenden Blockkonfrontation und kulminierten im Jahre 1950. Letztendlich ging es um die Frage, ob katholische Existenz unter den Bedingungen des Staatssozialismus überhaupt möglich war, und, falls man diese Frage bejahte, ob man auf Dauer angelegte kirchliche Strukturen parallel zu denen der westlichen deutschen Zonen aufbauen sollte. Bereits 1950 zeichnete sich zwischen dem in West-Berlin residierenden Kardinal von Preysing und den in der "Zone" lebenden Ordinarien ein tiefgreifender Dissens ab, der sich in größerer Schärfe in einer ungleich dramatischeren historischen Situation im Jahre 1961 in der identischen Konstellation "Zone vs. Westberlin" wiederholen sollte. Preysings Nach-Nachfolger Julius Döpfner mußte Berlin in Richtung München verlassen, und mit Alfred Bengsch ernannte der Vatikan bereits vor dem so nicht vorhersehbaren Mauerbau einen im Ostteil der Stadt wohnenden Bischof. Vergeblich forderte Döpfner in einem erst in den neunziger Jahren öffentlich bekannt werdenden Schreiben vom September 1961 "gebieterisch" von seinem Nachfolger, er solle auf West-Berlin verzichten. Damit stand Julius Döpfner für eine kirchenrechtliche Verselbständigung West-Berlins, doch diverse Bemühungen um die Ernennung eines Weihbischofs oder die Einsetzung eines Apostolischen Administrators im Westteil der Stadt blieben in den folgenden Jahren ergebnislos. Doch gab es in Berlin nach 1961 zwei Generalvikare, zwei Ordinariate und auch zwei kirchliche Welten. Die vermeintliche katholische "Klammer der Einheit" wurde eigentlich erst mit dem Jahre 1990 Realität. Seitdem übt das Erzbistum Berlin diese Einheit mal mehr, mal weniger, bisweilen recht, nicht selten schlecht - und liegt somit im guten Durchschnitt der deutschen Hauptstadt, der selbsternannten "Werkstatt der deutschen Einheit".

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Der Mauerbau von 1961 besiegelte einen unter den katholischen Ordinarien im Osten bereits zuvor eingeschlagenen Kurs der kirchlichen Konsolidierung in der DDR. Dieses war aber nur möglich ohne den Aderlaß durch die offene Berliner Grenze. Nachvollzogen werden kann dieser Prozeß am eindrucksvollsten in der Entwicklung der Positionen eines Protagonisten des ostdeutschen Katholizismus wie des Meißner Bischofs Otto Spülbeck in seiner Amtszeit zwischen 1955 und 1970. Begünstigt wurden diese kirchlichen Entwicklungen durch das offenkundige Interesse der DDR-Führung an der Zuständigkeit eines in Ostberlin residierenden Bischofs für Westberlin als Preis für eine stabile und berechenbare, politisch abstinente katholische Kirche, die der SED einen "Zweifrontenkrieg" mit beiden Konfessionen ersparte. Die Dauerkontakte der Beauftragten des Berliner Bischofs zum Ministerium für Staatssicherheit zwischen 1958 und 1989 boten der SED-Führung wie der Kirche eine geheimdiplomatische Verhandlungsebene zur Wahrung gegenseitiger Berechenbarkeit und zur Ausschaltung individueller "Störfaktoren" vor allem in der Kirche.

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Während sich das vorkonziliare katholische Kirchenbewußtsein in der Diaspora der DDR nicht von dem anderer Länder unterschied, entwickelte sich seit den sechziger Jahren vor allem außerhalb der Diözese Berlin eine eigene Rezeption des II. Vatikanums unter den Bedingungen der DDR. Plötzlich wurde die katholische Kirche im Klerus sowie vor allem in Studentengemeinden und Akademikerkreisen ungemein diskussionsfreudig und gesellschaftsorientiert. Weil damit zusätzlich eine Kritik der geheimdiplomatischen Kirchenpolitik des Berliner Zentralismus einherging und die Autorität des Konferenzvorsitzenden Alfred Bengsch massiv angefragt wurde (Motto Fasching KSG Berlin "Nachkonziliare Schweinezucht-Alfred, wir kommen"), kam es zu harten innerkirchlichen Auseinandersetzungen und disziplinarischen Maßnahmen wie Strafversetzungen gegen Priester.

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Die Dekrete der Meißner Bistumssynode in Otto Spülbecks Diözese wurden in den Jahren 1969/70 zur weltweit ersten ernsthaften nachkonziliaren Herausforderung Roms und von dort mit tatkräftiger Unterstützung Bengschs bekämpft. Der plötzliche Tod des von der Bischofskongregation gemahnten und der "Häresie" beschuldigten Otto Spülbeck im Juni 1970 stellte zum Gefallen der SED die Weichen in der katholischen Kirche der DDR hin zu einer traditionellen, gesellschaftspolitisch abstinenten und überwinternden Kultkirche. Spülbecks Nachfolger Gerhard Schaffran überspielte in Zusammenarbeit mit dem Bonner Nuntius diese Synode, obwohl ihre angeblich "häretischen" Dekrete damals von den Theologieprofessoren Karl Rahner, Walter Kasper und Josef Ratzinger in erbetenen Gutachten positiv bewertet wurden. Der ebenfalls angefragte Theologe Karl Lehmann lehnte in weiser Voraussicht ein solches Gutachten ab. Nach Spülbecks Tod wurde die Synode zunächst sistiert und dann in die von Bengsch dominierte Dresdner Pastoralsynode überführt, die zwischen 1972 und 1975 parallel zur Würzburger Synode tagte und für die katholische Kirche vor Ort in der DDR weitgehend folgenlos bleiben sollte - wie es von der bischöflichen Regie auch intendiert war. Einige Teilnehmer sollten "Dampf ablassen" und "was nachher beschlossen und gemacht wird, bestimmen ohnehin wir Bischöfe", beruhigte Bischof Gerhard Schaffran bereits vor der Synode nervöse SED-Funktionäre im Rat des Bezirkes Dresden.

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Die zunächst noch einflußreichen innerkirchlichen Tendenzen zu einer kritischen Orientierung hin auf die real existierende Gesellschaft der DDR, sozusagen eine "katholische Auseinandersetzung" mit ihr, erstarben in den frühen siebziger Jahren. Bis 1989 verfestigte sich cum grano salis in den ostdeutschen kirchlichen Jurisdiktionsbezirken ein sakramentalistisches, priesterzentriertes und gemeindefixiertes Kirchenleben in einer von staatlicher Seite immer mehr tolerierten Nische. Noch von den Beschlüssen der Meißner Synode unter Spülbeck hatte der Staat der DDR Ängste vor einer "Modernisierung" der katholischen Kirche und einer "erhöhten Massenwirksamkeit" vor allem unter Akademikern verbunden. Diese Furcht sollte sich aber als unbegründet erweisen. Gelegentliche "Öffentlichkeitswirksamkeit" der Kirche ließ sich nach dem Tode Bengschs im Jahre 1979 bis zum Herbst 1989 weitgehend mit Hilfe geheimdiplomatischer Kanäle unter Kontrolle halten. Für einzelne Fälle "politisch-negativer" Dissidenz katholischer Kleriker und Laien zeichnete die "operative Bearbeitung" und "Zersetzung" durch die Staatssicherheit verantwortlich, nicht selten mit Hilfe ihr sekundierender kirchlicher Amtsträger.

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Auf der anderen Seite verfestigte sich so ein weitgehend stabiles katholisches Diaspora-Milieu als minoritäre Substruktur in der DDR. Man war klein, hielt zusammen und kannte sich in einem selbstgeschaffenen, aber kaum gefährdeten begrenzten Freiraum. Bedroht war dieses Milieu kaum durch den offiziellen "dialektischen Materialismus" und die niemals aufgegebene latente bis offene staatliche Diskriminierung von Christen, sondern vor allem durch die Verlockungen des Westens, also durch Ausreiseanträge und Abwanderung. Nachdem der Mauerbau 1961 diese Sorge von den katholischen Ordinarien genommen hatte, brachten die Ausreiseschübe von 1984 und 1988/89 auch die Kirche wieder in Verlegenheit. Und hier trat nun wieder ein bereits aus den späten fünfziger Jahren bekanntes Muster der gesamten DDR-Gesellschaft zutage, das bis heute vielerorts anhält: Das Bild vom materiell bescheideneren, aber moralischeren und damit -im uns hier interessierenden Falle- "katholischeren" Osten, wo man im Gegensatz zum konsum- und geldorientierten Westen leichter den Glauben bewahren konnte. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen der DDR war man vor destruktiv empfundener Modernität und Pluralität geschützt, und das vergleichsweise niedrige Konsumniveau des "praktischen Materialismus" in der DDR tat das Seine, um Zerstreuungsmöglichkeiten zu begrenzen und damit authentischer bzw. "katholischer" leben zu können. Und was heute oft vergessen wird: Seit etwa Mitte der sechziger Jahre war die katholische Kirche in der DDR-Öffentlichkeit zwar meistens verschwiegen worden, aber damit auch nicht der medialen Kritik ausgesetzt wie die katholische Kirche im Westen. Auf dem Höhepunkt der Debatte um die Bischofsnachfolge in Köln bedankte sich Kardinal Meisner 1988 ausdrücklich beim Ostberliner Staatssekretär für Kirchenfragen, daß ihn die DDR-Medien nicht wie die Westmedien kritisierten. Pressefreiheit außerhalb kirchlicher Medien stand nie auf der Wunschliste der katholischen wie auch der evangelischen Bischöfe in der DDR.

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Im September 1989 sprach der gerade inthronisierte Bischof Georg Sterzinsky in seiner West-Berliner Antrittspredigt angesichts der Ausreisewelle vom Weg in den Westen als dem "bequemeren", welcher "der gefährlichere" sein könne. Einige Monate zuvor hatte sein Dresdner Amtsbruder Joachim Reinelt im April 1989 in einer von Hunderten besuchten Vortragsveranstaltung der KSG Dresden in der anschließenden Diskussion um die "Kölner Erklärung" der Theologieprofessoren erleichtert festgestellt: "Gott sei Dank, die Mauer bewahrt uns vor so manchem". Und derjenige, der mittelbar diese Erklärung hervorgerufen hatte, stellte im selben Monat als neu ernannter Kardinal von Köln im "Rheinischen Merkur" seine Erfahrungen als Bischof im geteilten Berlin so dar: "Ich habe immer die deutlichen Differenzen gespürt, auch in der Glaubenskraft der Kirche, aber habe mir ganz realistisch gesagt, die Christen im Ostteil meines damaligen Bistums Berlin, sind nicht besser als die im Westteil, nur haben sie weniger Gelegenheit zum Sündigen. Das heißt, unter den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik würden die Christen in der DDR wahrscheinlich das gleiche Erscheinungsbild bieten."

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Es ist sicher keine Indiskretion, daß Kardinal Joachim Meisner diese Äußerungen durch seine Erfahrungen von 1989 bis heute bestätigt sieht. Und er steht mit dieser Haltung in weiten Teilen des ostdeutschen Klerus nicht allein, der ungebrochen an politische Systeme und gesellschaftliche Bedingungen zuallererst den Maßstab der Folgen für die eigene Seelsorge legt. Der Erfurter Bischof Joachim Wanke, Vorsitzender der Kommission Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz, bekannte in diesem Jahr im Vorwort eines Büchleins mit dem sprechenden Titel "Wiedervereinigte Seelsorge", daß er oft mit der Frage ringe, welche seiner bisher fast zwanzig Bischofsjahre er für die fruchtbareren halte - die Jahre zwischen 1981 und 1990 in der DDR oder die Dekade im vereinigten Deutschland. Die Tendenz ginge nun leicht in die Richtung der Zeit nach 1990, so Wanke. Zumindest befindet man sich mit dieser katholischen Variante einer partiell aufgeklärten Ostalgie zwar nicht als Kirche, aber stimmungsmäßig mitten im Leben der sogenannten neuen Bundesländer: Man ist froh, die Nachteile der DDR gegen die Vorteile der Bundesrepublik eingetauscht zu haben. Gleichzeitig möchte man Vorteile aus der DDR bewahrt und die Nachteile der Bundesrepublik von sich ferngehalten wissen.

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2. Gesamtdeutsche Kirchenkontakte

Es wäre eine Schieflage, wenn an dieser Stelle die gesamtdeutschen Kontakte einerseits und das mehr oder weniger erzwungene Auseinanderleben der Katholiken in Ost und West andererseits mit seinen Folgen für die Entwicklung seit 1990 nicht thematisiert würden.

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Diese Beziehungen waren von 1961 bis in den Herbst 1989 auf beiden Seiten von der Gewißheit dominiert, daß die deutsche Teilung endgültig und unwiderruflich sei. Offizielle Kontakte auf der Ebene der Bischofskonferenzen waren nicht möglich. Spätestens seit 1966 hatten die westdeutschen Mutterbistümer Paderborn, Fulda, Würzburg und Osnabrück keine Jurisdiktionsmöglichkeiten in ihren ostdeutschen Diasporateilen mehr.

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Während in den Jahren vor und nach 1961 grenzüberschreitende Kirchenkontakte noch geradezu erwünscht und ersehnt waren, erfaßte das Episkopat in der DDR und insbesondere seine Zentrale im Berliner Ordinariat nach dem II. Vatikanum ein immer größeres Unbehagen über die "schlechten" Einflüsse des westdeutschen Katholizismus mit "falscher Theologie" und innerkirchlichen "Aufrührern". Die "Königsteiner Erklärung" der Deutschen Bischofskonferenz von 1968 konterkarierte die Berliner Ordinarienkonferenz unter Führung von Alfred Bengsch mit einer eigenen Verlautbarung, die Papst Paul VI. gegenüber dem Berliner Kardinal ausdrücklich lobte, nachdem er in der Audienz zuvor Kardinal Julius Döpfner seine große Enttäuschung vermittelt hatte.

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Nachkonziliar erfaßte auf der einen Seite die gesellschaftlich interessierten katholischen Priester und Laien in der DDR eine Reformeuphorie unter kritischer Rezeption westlicher Ideen und Texte. Auf der anderen Seite entwickelte sich vor allem bei Kardinal Bengsch und seinen Mitarbeitern deshalb eine starke Phobie gegen den "Westen" als angeblichem "Infektionsherd" für die noch relativ "gesunde" katholische Kirche in der DDR. Der schließliche Sieg des "Primats der Seelsorge" in der DDR war auch die Niederlage durchaus möglicher gesamtdeutscher Konvergenzen aus den beiden Katholizismen in Ost und West. Solche Konvergenzen waren beispielsweise im Protestantismus zu Zeiten der Teilung ungleich höher, die grenzüberschreitenden Kontakte erheblich intensiver.

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Den nachkonziliaren Bruch überlebte das Verhältnis von Katholiken auf beiden Seiten der Grenze fast nur noch mit individuellen Ausnahmen sowie auf der Ebene einzelner Bischöfe und hoher Funktionsträger des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Diese konnten sich nach jeweiliger Genehmigung durch das Ministerium für Staatssicherheit jährlich zu Besprechungen im Ostberliner Ordinariat treffen. Kontakte von Verbänden und Individuen wurden rarer, waren aber in ihrer Singularität oft erstaunlich stabil wie im Falle des progressiv-dissidenten "Aktionskreises Halle". Weil sie logistisch kompliziert waren, konnten sie sowohl von staatlicher als auch von kirchlicher Seite in der DDR gefördert oder behindert, zumindest aber kanalisiert werden. Staat wie Kirche wollten entscheiden, welche Bücher man in der DDR nachdruckt, welche Literatur für das Erfurter Priesterseminar importiert wurde, welche westlichen Referenten und Gäste man einlädt und welche tunlichst der DDR bzw. ihren Katholiken fernzubleiben hätten.

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Im westdeutschen Katholizismus, der sich nicht anders als die bundesdeutsche Gesellschaft immer weniger für die DDR zu interessieren begann, boten die offiziellen Abschottungstendenzen der katholischen Kirche im Osten eine gute Gelegenheit, eigenes Desinteresse mit Hinweis auf objektive Schwierigkeiten zu entschuldigen. Von Ausnahmen abgesehen, die zumeist auf biographischen Hintergründen oder engen verwandschaftlichen bzw. freundschaftlichen Bindungen beruhten, ist es frappierend, wie gering in der Summe bis 1989 auf beiden Seiten der Grenze das katholische Interesse an gemeinsamem Austausch war. Auch auf der Ebene der wenigen informierten westdeutschen Bischöfe und ZdK-Funktionsträger, die regelmäßig die führenden ostdeutschen Bischöfe und Prälaten trafen, war das Insiderwissen über die katholische Kirche in der DDR letztlich gering ausgeprägt. Das ist darauf zurückzuführen, daß die ostdeutschen Gesprächspartner dieses Wissen nicht mit ihren westdeutschen Amtsbrüdern teilen wollten, weil sie von diesen wenig Verständnis und Diskretion erwarteten. Der Preis dafür war ein lange andauerndes unbehagliches Mißtrauen nach dem Zusammenbruch der DDR. Auf Sitzungen der DBK mußten ostdeutsche Bischöfe vier bis fünf Jahre nach dem Mauerfall vortragen wie es denn war mit Staat und katholischer Kirche in der DDR im allgemeinen und dem Verhältnis zur Staatssicherheit im besonderen. In dieser Phase entstand auch das zu Beginn des Vortrages erwähnte Fragezeichen hinter dem Katholizismus als vermeintlicher "Klammer der deutschen Einheit".

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3. Die Finanzen

Was jedoch über die gesamte Zeit der deutschen Teilung ungebrochen funktionierte, war die Finanzierung der ostdeutschen Diaspora durch die westdeutsche Volkskirche. Oder war es die Finanzierung der katholischen Kirche in der DDR durch die katholische Kirche in der Bundesrepublik? Je nachdem, welchen Akzent man hier setzt - er offenbart die jeweilige Haltung und das dünne Eis, das eine Verbindung charakterisieren kann, deren Basis quantitativ zu einem bedeutenden Teil von materiellen Gesichtspunkten bestimmt wird. Die Finanzierung von kirchlichem Personal und Einrichtungen in der DDR erfolgte nämlich zu 50 Prozent aus westdeutschen Geldern und sicherte damit die Existenz einer katholischen Kirche im anderen deutschen Staat mindestens zur Hälfte ab.

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Obwohl die SED nach 1961 alle rechtlichen gesamtdeutschen Kirchenzusammenhänge unterbinden wollte, wurde angesichts des steigenden Devisenbedarfs der DDR die Finanzierung und Ausstattung der Kirchen mit westlichen Geldern und Materialien gebilligt, schließlich sogar gefördert. Insgesamt betrug die von allen Bonner Bundesregierungen genehmigte westdeutsche Unterstützung der katholischen Kirche in der DDR zwischen 1966 und 1989 etwa 630 Millionen DM, die durch die Staatsbank der DDR an die Kirche überwiegend in Mark der DDR ausgezahlt wurden. Jährlich wurden so im Durchschnitt ca. 26 Millionen DM zur Kirchenfinanzierung in die DDR transferiert, vor allem über den Deutschen Caritasverband in Form von Rohstoffen wie Kupfer. Durch künstliche Währungskurse und Spekulation mit Rohstoffen konnte die DDR daraus im Rahmen der "Kirchengeschäfte" des Alexander Schalck-Golodkowski jährlich ca. 15 Millionen DM "erwirtschaften". Doch dieses ist eine eigene Geschichte.

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"Hier kommt unser teuerster Sohn", soll der darüber verstimmte Kardinal Alfred Bengsch aus dem Munde von Kardinal Josef Höffner zufällig gehört haben, als der Kölner Bischof glaubte, sein Berliner Amtsbruder könne es nicht hören.

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Der Berliner Kardinal seinerseits scheute sich beispielsweise 1978 nicht, nach der Wahl von Papst Johannes Paul II. dem Bonner Nuntius mitzuteilen, es sei ihm während der beiden Konklave deutlich geworden, "wie kümmerlich der Beitrag der Ortskirchen für die Aufgaben des Heiligen Stuhles" sei. Besonders der "Peterspfennig sei unter den Kollekten der Bundesrepublik kein rühmlicher Posten". Deshalb übersandte der Berliner Kardinal dem Nuntius "an den Heiligen Vater zur Verwendung nach seinen Intentionen" streng vertraulich einen Scheck in Höhe von 100.000 DM.

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Nicht nur durch solche Gesten, sondern vor allem mit absoluter theologischer Loyalität, konnte sich der in Rom beliebte DDR-Katholizismus einen guten Stand bei Papst und Kurie verschaffen, der unter einem Alfred Bengsch oder Joachim Meisner stets den der Deutschen Bischofskonferenz unter einem Karl Lehmann oder gar einem Julius Döpfner übertraf. Dieses sollte sich in den Jahren seit 1990 auszahlen.

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Ob es nur die Finanzen waren, die Bischof Karl Lehmann in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz im Sommer 1990 bewogen, noch vor der offiziellen Vereinigung der Konferenzen dem Heiligen Stuhl vorzurechnen, für wie wenig Katholiken im Vergleich zu westdeutschen Diözesen in der DDR ein überproportionaler Apparat an kirchlichen Amtsträgern, Behörden und Einrichtungen bestünde? Lehmann plädierte für die Rückkehr der Jurisdiktionsbezirke Erfurt-Meiningen, Magdeburg und Schwerin an ihre westdeutschen Mutterbistümer und schlug eine straffende Neuordnung der anderen Diözesen und der Administratur Görlitz vor. Diese westdeutschen Spar- und Effizienzargumente, die seitens des Sekretariates der Deutschen Bischofskonferenz auch in solchen Feststellungen gipfelten wie "ein neues Bildungshaus für den ganzen Osten reicht", stießen dort angesichts der vergleichsweise üppigen Ausstattung der Westbistümer auf wenig Glaubwürdigkeit.

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Vielmehr wollten Erfurt-Meiningen, Magdeburg und Görlitz selbstbewußt zu eigenen Diözesen werden. Nur der Mecklenburger Klerus optierte angesichts seines äußerst strukturschwachen katholischen Territoriums, aber auch aufgrund ziemlich verhaltener Begeisterung für die eigene Bistumsspitze, für die Auflösung der Apostolischen Administratur Schwerin und die Rückkehr zu Osnabrück bzw. im Rahmen der diözesanen Neuordnung für die Integration in ein Erzbistum Hamburg. Und Rom schloß sich in alter Verbundenheit mit der Berliner Bischofskonferenz den ostdeutschen Anliegen mit historischen Argumenten an.

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Die Konsternierung an der Spitze der Bischofskonferenz, vor allem aber des Fuldaer Ordinarius und seines Paderborner Amtsbruders war offensichtlich. Die westdeutschen Mutterbistümer fragten sich, wie dieses passieren konnte. Gehörte man nicht immer zusammen? Hatten nicht über alle Jahre der DDR die ostdeutschen Bischöfe und der Vatikan standhaft die Anpassung der Kirchen- an die Staatsgrenzen abgelehnt und damit die kirchenrechtlichen Bindungen an die Mutterbistümer stets aufrecht erhalten? Auch hier weist ein Blick in bisher verborgene Geschichte aus, daß der Magdeburger Ordinarius seit den siebziger Jahren aus Statusgründen schon immer ein eigenes Bistum wollte, ebenso wie der Schweriner Ordinarius. Und der Dresdner Bischof hatte, obwohl selbst gar nicht betroffen, schon immer gegenüber dem Vatikan für die Einrichtung selbständiger Diözesen auf dem Gebiet der DDR plädiert. Und die Görlitzer Ordinarien wollten schon immer eine eigene schlesische Restdiözese nach dem Untergang des alten Bistums Breslau. Und der Vatikan stand kurz vor dem Tode von Papst Paul VI. 1978 kurz davor, in der DDR Apostolische Administraturen als Vorstufe zu Bistümern zu errichten. Obwohl unter dem polnischen Papst diese Dynamik vatikanischer Ostpolitik aufgehalten wurde, erwachte seit Mitte der achtziger Jahre wieder der Stil der alten Casarolischen Diplomatie gegenüber der DDR. Für 1991 war ein Papstbesuch in der DDR von beiden Seiten vorgesehen und in der ostdeutschen katholischen Kirche in Verhandlungen mit den Staatsorganen vorbereitet. Daß er schließlich nicht zustande kommen sollte, lag nicht am Vatikan.

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Der Fuldaer Erzbischof sollte auf ein Bistum Erfurt verbittert reagieren und unter anderem in Rom gegen die Errichtung einer Theologischen Fakultät innerhalb der wiedergegründeten Erfurter Universität protestieren. Paderborn machte dagegen gute Miene zum "unerfreulichen" Spiel und schenkte dem neuen Bistum Magdeburg großmütig zum Abschied mit 40 Millionen DM die Finanzierung eines neuen Bildungshauses in bester Innenstadtlage.

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Für die Deutsche Bischofskonferenz und den Verband der Diözesen Deutschlands kam es statt der erhofften Einsparungen zu vermehrten Kosten, zumal die Kirchensteuererfassung durch die Finanzämter in den neuen Bundesländern jahrelang nur sehr schleppend voranging. Angesichts des Wunsches zur Gründung von Bistümern hatten die ostdeutschen Ordinarien zuvor gegen Vorbehalte ihrer Katholiken das westdeutsche Kirchensteuersystem einführen müssen.

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Außerdem wagten es die ostdeutschen Bischöfe, sich zwischen 1990 und 1995 für fünf Jahre als "Arbeitsgemeinschaft der Bischöfe der Deutschen Bischofskonferenz - Region Ost" zu konstituieren, mit einem Sekretariat in Berlin zu arbeiten und in drei bis vier jährlichen Sitzungen eigene Beschlüsse zu fassen. Die ständigen Ermahnungen aus Sekretariat und Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz, die inoffiziell lauteten "Ihr bildet ein von uns nicht zu kontrollierendes Machtzentrum" und offiziell formulierten "Wollt Ihr etwa die deutsche Einheit nicht?", fruchteten schließlich in der Selbstauflösung der Arbeitsgemeinschaft zum Ende des Jahres 1995.

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4. Ausblick auf das Staat-Kirche-Verhältnis

Im Jahre 2000 sind die Würfel in struktureller Hinsicht grundsätzlich gefallen, die Folgen der deutschen katholischen Nachkriegs-Mikrohistorie haben sich verfestigt. Zwischen den west- und ostdeutschen Diözesen werden die knapper werdenden Ressourcen durch einen Finanzausgleich verteilt, aber der Spardruck auf die Ostbistümer wird noch erheblich zunehmen. Der wachsende Priestermangel in den Flächenbistümern der Diaspora wird die ostdeutschen Diözesen hart treffen. Werden sie langfristig lebensfähig sein oder wieder neu geordnet werden müssen?

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Aber die Folgen der deutschen Einheit erzeugen auch eine andere Dynamik. Die Deutsche Bischofskonferenz hat sich alle Mühe gegeben, neben der schnellen Angleichung des Kirchensteuersystems und der Miltärseelsorge im Osten, auf keinen Fall die Fragilität eines verfassungsmäßig garantierten konfessionellen schulischen Religionsunterrichts durch eine neue Diskussion testen zu lassen. Die Empfehlungen an die ostdeutschen Katholiken waren eindeutig: Um Rückkopplungseffekte in den Westen zu vermeiden, muß der konfessionelle schulische Religionsunterricht Bestandteil aller neuen Länderverfassungen im Osten werden, die tatsächliche Praxis ist sekundär. Dieses Ziel ist weitgehend erreicht worden. Die Praxis sieht heute so aus, daß mangels Schülern nur in wenigen Schulen der neuen Bundesländer katholischer Religionsunterricht tatsächlich erteilt wird. Nach wie vor findet er zum Gefallen der meisten Priester und Katholiken überwiegend in den Pfarrhäusern statt.

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Nur das Land Brandenburg ging gegen den Widerstand beider Konfessionen einen eigenen Weg mit dem Schulfach "Lebensgestaltung-Ethik-Religion" (LER), über dessen Legitimation nun das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hat. Es ist derzeit völlig offen, welcher Meilenstein im deutschen Staat-Kirche-Verhältnis hier als Folge der deutschen Einheit gesetzt werden wird. Das Urteil und seine Begründung können zu Recht mit großer Spannung erwartet werden.

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Einen anderen, möglicherweise noch bedeutenderen Meilensein, ist die Kirche soeben im Begriff, selbst zu setzen. Die unterschiedlichen gesetzlichen Abtreibungsregelungen in der DDR und der Bundesrepublik machten eine neue gesamtdeutsche Gesetzgebung und ihre verfassungsgerichtliche Bestätigung erforderlich. Während es den Bundestagsparteien gelang, dieses seit über zwanzig Jahren schwelende Streitthema im großen Konsens zu lösen, bringt es die katholische Kirche in erhebliche innere Bedrängnis, weil sich an dieser Problematik lange gehegtes Unbehagen gegenüber dem demokratischen Staat umsetzen läßt.

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Es ist bemerkenswert, daß ein Kardinal als Berliner Bischof ein Leben in der DDR als günstiger für die Bewahrung des katholischen Glaubens ansah als ein Leben in der Bundesrepublik, obwohl es in der DDR z.B. eine uneingeschränkte Fristenregelung zur Abtreibung gab. Als Kölner Bischof sah sich derselbe Kardinal zu einer allseits öffentlich bekannten Gewissensentscheidung verpflichtet, obwohl die bundesdeutsche Abtreibungsregelung restriktiver ist und zudem den Kirchen rechtliche Möglichkeiten bot, auf die individuelle Entscheidung zur Abtreibung Einfluß zu nehmen. Hieraus spricht das auch aus Rom geforderte Bedürfnis zur verschärften Abgrenzung gegenüber einem pluralistischen demokratischen Staat, der die Kirchen zwar fördert, aber zugleich einbezieht und für einen gemeinsamen gesellschaftlichen Konsens in Haftung nimmt.

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In der DDR oder anderen totalitären Staaten sozialistischer Prägung wäre die katholische Kirche nie in eine solche Verlegenheit bzw. Versuchung gekommen. Die Fronten waren klar. Man wußte um das jeweilige Territorium des anderen, und beide Seiten hatten sich damit arrangiert. So konnte die katholische Kirche in der DDR mit den dortigen Abtreibungszahlen leben bzw. sie gar nicht registrieren, so lange sie nur im Glauben bleiben konnte, daß sie das katholische Milieu nicht betrafen. Die ostdeutsche Kirche war klein und abgeschottet, aber bekenntnisstark. War sie damit das elitäre "Salz der Erde", von dem Kardinal Ratzinger und die sogenannten "geistlichen Erneuerungsbewegungen" als Kirche der Zukunft träumen? Liegt die Zukunft des deutschen Katholizismus also in einer aus den Traditionen des DDR-Katholizismus gespeisten Mentalität?

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Der Katholizismus in Ostdeutschland blieb zwischen 1945 und 1990 trotz seiner Schrumpfung von 12 auf 4 Prozent der Bevölkerung innerlich überwiegend gefestigt. Etwa drei Viertel dieser Reduktion sind auf Abwanderung von Katholiken nach dem Westen zurückzuführen, am massivsten vor dem Mauerbau von 1961 und nach dem Mauerfall von 1989. Hat er deshalb aber für die gesamtdeutsche Situation Modellcharakter, wenn Theologen aus dem Osten behaupten, daß die säkularisierten ostdeutschen Bundesländer mit ihrem kleinen bekenntnisstarken Katholikenanteil von 4 Prozent nur eine Entwicklung vorwegnähmen, die in westdeutschen Landen mittel- bzw. langfristig ebenfalls unvermeidlich bevorstünde? Eine solche Prognose scheint mir eher ein Selbstzweck zu sein und einer Relativierung eigener ostdeutscher Unzufriedenheiten über mangelnde missionarische Erfolge zu dienen.

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Die katholische Kirche hat im Westen wie Osten die eigene Option, solchen Entwicklungen selbst entgegenzusteuern. Ob sie es will oder überhaupt kann, ist zuvörderst ihr eigenes Problem und nicht von gesellschaftlicher Dynamik oder angeblich zerstörerischen "-ismen" determiniert. Was die innere Struktur der katholischen Kirche und ihre künftigen Außenbeziehungen angeht, so gilt es heute gesamtdeutsch festzustellen, daß diejenigen, die Verantwortung tragen und sie reklamieren, auch die Verantwortung für die Folgen ihres Tuns zu übernehmen haben. Davor schützt auch kein "Nichtgewußthaben" und "Nichtwissenwollen". Hier kann historische Erkenntnis mitunter hilfreich sein.

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