Neues zur Methode des Kirchenrechts: Ivo von Chartres' Prolog

Gleichzeitig eine Rezension von Jean Werckmeister, Yves de Chartres. Prologue (= Sources canoniques Bd. 1, herausgegeben von Oliviér Échappé und Jean Werckmeister). Paris: Cerf 1997

"Ivo (1040-1115), Bischof von Chartres von 1090 bis zu seinem Tod, war der größte 'Kanonist' (das Wort existierte damals noch nicht) seiner Zeit. Sein Prolog entstand um 1095 und ist einer der bedeutendsten Texte der kanonistischen Tradition des Westens. Noch genauer, er ist einer der grundlegenden oder Vorläufertexte der Kanonistik als Wissenschaft: Zum ersten Mal, gegen das Ende des 11. Jahrhunderts, hat ein Verantwortlicher der Kirche, ein Mann der Tat aber gleichzeitig Mann großer Kultur, den Entwurf eines Traktates des kanonischen Rechtes gemacht" (12). So charakterisiert Werckmeister den Autor und sein Werk. Und weiters nennt er ihn den Reformbischof und unbeugsamen Bischof, gleichzeitig aber auch den schlichtenden oder vermittelnden Bischof.

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Bisher war dieser Prolog im Band 161 der Patrologia Latina zugänglich, wo Migne die Ausgabe von Fronteau von 1647 wiederabgedruckt hat. Inzwischen gibt es auch einen Abdruck in den Vereinigten Staaten, von Bruce C. Brasington, in Los Angeles, in englischer Übersetzung (unveröffentlicht).

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Dieser, wie Werckmeister sagt, "erste Traktat des kanonischen Rechtes" bleibt in gewisser Hinsicht historisch ein Mysterium. Prolog wofür? Zum Dekret oder zur Panormie vom selben Autor? Werckmeister läßt die Frage, die für die heutige Zeit nicht so wesentlich ist, offen.

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Ivo wird als Bischof zu verschiedenen Problemen seiner Zeit konsultiert. Bekannt ist heute (durch George Duby, Ritter, Frau und Priester, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1986) seine Stellungnahme zur Wiederheirat Philipps' I. Darüber wissen wir auch durch seine Briefliteratur. In vielen Fragen hat sich Ivo konziliant gezeigt. Wichtig wurde seine Stellungnahme für die Investitur von Bischöfen. Er spricht in eine Zeit hinein, in der die Kirche in einer großen Krise war, vergleichbar unserer heutigen Zeit.

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Er hat im Prolog Wesentliches zur Frage der Anwendung von Gesetzen gesagt. Seine Konzeption ist dabei eine Theorie seiner Praxis: Festigkeit in bestimmten Fragen (so z. B. in der Frage der Scheidung Philipps I.), Nachgiebigkeit (Biegsamkeit,   Geschmeidigkeit) in anderen Fragen (z. B. bei der Investitur der Bischöfe). Sein Hauptargument ist, daß zwar einzelne Gesetze mit Strenge anzuwenden sind (die sogenannten "immobilen" Gesetze), andere kann man mildern (moderatio) oder von ihnen Dispens gewähren (dispensatio), das sind die sogenannten "mobilen" Gesetze. Und was nun ganz wichtig ist, Ivo geht davon aus, daß die immobilen Gesetze sehr selten sind. Man kann vom größten Teil der Gesetze dispensieren, wegen des Heils der Personen oder wegen der Nützlichkeit für die Kirche.

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Die Einleitung von Werckmeister setzt mit der Frage nach der consonantia der Canones fort. Die erste vom Prolog angesprochene Frage ist nämlich jene nach den Quellen des Rechts und ihren Widersprüchen. Ivo unterscheidet vier Hauptrechtsquellen:

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die Briefe der römischen Bischöfe, d.h. die Dekretalen, die er an der Spitze zitiert, als guter gregorianischer Reformator, der er ist;

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die Akten der Konzilien. Die Canones der Konzilien haben, gemäß Ivo, die päpstliche Approbation notwendig, deshalb werden sie an zweiter Stelle genannt;

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die patristischen Schriften, die vor dem 11. Jahrhundert nicht allgemein als Rechtsquellen verstanden wurden. Werckmeister interpretiert das so: Ihre wichtige Anwesenheit in den Quellen Ivo von Chartres' weist auf eine theologische oder biblische Konzeption des Kirchenrechts hin. Er merkt dazu an, daß die Kirchenväter im Mittelalter als authentische Interpreten der Bibel, als Exegeten betrachtet wurden. Häufiger werden sie in dieser Eigenschaft in den kanonistischen Sammlungen zitiert;

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die weltlichen Gesetze (promulgiert durch "katholische Könige").

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Im Kontext der Zeit, des Konfliktes zwischen dem Papst und den Königen oder dem Kaiser, ist es hervorhebenswert, daß Ivo die königlichen oder kaiserlichen Gesetze als Quellen des Rechts der Kirche bezeichnet. Werckmeister stellt fest, daß er das immer schwächer tut: Die Panormie, die letzte seiner kanonistischen Sammlungen, zitiert das römische oder das säkulare Recht mehr als selten. Hier, im Prolog, gibt es diese Verschweigungen noch nicht.

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Dieser Liste im Prolog muß noch die Gewohnheit hinzugefügt werden, von der der Prolog nicht spricht, die aber nach seiner Briefliteratur und nach dem Dekret in den Augen Ivos gleichwertige Quelle des Rechtes ist, auch wenn unterhalb der Dekretalen und der Konzilien.

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Gratian hat später seine Sammlung Concordia canonum discordantium genannt. Auch für Ivo taucht die Frage auf, wie es ist, wenn ältere Quellen sich widersprechen. Ivo bemerkt dazu im Prolog, wenn der Leser meine, daß die Canones sich widersprächen, dann sei die Lösung die, Distinktionen zwischen den Canones zu machen: Die einen, sagt er, schreiben eine Regel vor (secundum rigorem oder secundum iudicium), während die anderen von der Regel dispensieren (secundum moderationem oder secundum misericordiam). Also eine sehr praktische Lösung. Er greift für das kanonische Recht auf dieselbe Theorie zurück, die er für divergierende Passagen der Bibel verwendet, z. B. im Brief 222 (Pl 162, col. 226-227), und zwar deswegen, weil die Wege des Herrn die misericordia und die veritas sind, also die Gnade und die Wahrheit (Ps 24). Wir denken ja auch nicht, daß die göttlichen Schriften sich widersprechen, sondern daß in den einen sich der Rigor der Gerechtigkeit und in den anderen die Dispensation (hier wirklich im Sinne von oikonomia) des Vergebens ausdrückt. Dieses Thema des Nichtwiderspruchs zwischen misericordia und veritas, zwischen Vergebung und Gerechtigkeit, ist auch im Prolog klar ausgesprochen: Gott selbst ist es, der sowohl misericordia als auch veritas ist.

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Eine andere, schon angesprochene Unterscheidung ist die zwischen immobilen und mobilen Gesetzen. Immobil sind jene Vorschriften, die das ewige Gesetz vorschreibt. Ihre Beobachtung führt nicht zum Heil, wohl aber ihre Nichtbeobachtung zur Verdammnis. Alle Beispiele von solchen Gesetzen sind bei Ivo aus dem Dekalog genommen: Liebe deinen Herrn, deinen Gott mit deinem ganzen Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst; ehre deinen Vater und deine Mutter; töte nicht; begehe keinen Ehebruch, und andere Dinge, die ihm ähnlich sind. Es handelt sich hier um Vorschriften oder Verbote an der Basis, deren Beobachtung zwar nicht die ewige Seligkeit bringt, die aber zur Verdammnis führen, wenn man sie nicht beobachtet. Die Verbote betreffen hier also die Todsünden.

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Es gibt bei Ivo noch keinen Unterschied zwischen göttlichem und menschlichem Recht. Den gibt es erst später vor allem beim Heiligen Thomas. Es wäre ein Anachronismus, diesen Unterschied schon bei Ivo zu suchen. Für Ivo ist das kanonische Recht als Ganzes kirchliches Recht und die lex aeterna - immer in derEinzahl! - trifft nur die großen Prinzipien des Dekalogs. Es gibt im Prolog keine Theorie des ius divinum. Auch die Gesetze, die sich im neuen Testament finden, sind nicht alle ewige. Ivo setzt nicht lex aeterna und Heilige Schrift gleich. In § 14 des Prologs nennt er evangelische oder paulinische Regeln, die zufällig sind.

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In seinem Prolog weiterschreitend behandelt Ivo die Dispens. Es ist Aufgabe des Richters, des Rechtsanwenders, die Gesetze moderat anzuwenden. Um seine These zu belegen, führt er eine Reihe von Beispielen an: Er nennt das Vorgehen gegen die Häretiker, die Versetzung von Bischöfen, die Weihe von Klerikersöhnen. In allen diesen Fällen hat man, aus der Notwendigkeit der Zeit heraus, das strenge Gesetz milde angewendet.

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Unter Dispens ist dabei, wie Werckmeister bemerkt, nicht die Dispens im heutigen Sinne, nämlich die Aufhebung einer Gesetzesverpflichtung im Einzelfall, zu verstehen. Dieser Begriff geht auf die Kanonistik seit Rufinus zurück. Was Ivo macht, ist, daß er den Begriff oikonomia, den er in den östlichen Quellen findet, mit Dispens übersetzt. Es ist dies meines Erachtens der viel weitere Dispensbegriff, der auch im CIC 1917 und seit dem CIC 1983 dort noch verwendet wird, wo es um die Auflösung einer vollzogenen Ehe geht. Ivo verwendet in dem Zusammenhang einen Traktat des Cyrill von Alexandrien. Peter Huizing hat seinerzeit schon darauf hingewiesen, daß ein Zusammenhang zwischen oikonomia und Dispens besteht. Cyril Vogel hat dies in der Revue de droit canonique breiter ausgeführt. So halte ich es für besonders verdienstvoll, daß Werckmeister diese Linie weiterzieht.

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Eine weitere Frage ist die, wie weit Ivo über seine Zeit hinaus gerade mit seinen Überlegungen im Prolog gewirkt hat. Das ist nun, wie Werckmeister mit Recht bemerkt, sehr schwierig festzustellen. Er kann aber immerhin auf Alger von Lüttich hinweisen.

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Das Buch ist in dem Zusammenhang, vor allem auch die Einleitung von Werckmeister, ein wichtiger Baustein für den heutigen Aufbau eines diakonischen Kirchenrechts. Eines Kirchenrechts, bei dem im Vordergrund die gerechte Entscheidung im Einzelfall steht. Ich habe mich seit 20 Jahren darum bemüht. Und bin deswegen dem Verfasser besonders dankbar, daß er diesen Prolog durch seine Übersetzung einer größeren Öffentlichkeit zugänglich macht.

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Den Kern des Buches bietet dann der Abdruck dieses Prologs in Französisch und Latein. Die lateinische Ausgabe ist dabei eine kritische Ausgabe, die sich auf mehrere Manuskripte bezieht (insgesamt gibt es mehr als 170!). Die französische Übersetzung ist mit vielen Anmerkungen versehen, die einerseits versuchen, Begriffe zu verdeutlichen, und andererseits einen kenntnisreichen Kommentar darstellen. Auch dafür ist dem Verfasser zu danken.

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Werckmeister steht damit in der Tradition der französischen Kanonistenschule, wie sie heute noch ihre Zentren in Paris und Strasbourg hat. Sie ist stark der Rechtsgeschichte verbunden, berücksichtigt die soziologische Methode ausreichend, und hebt dann nicht - wie eine der Communio-Ekklesiologie bestimmter Richtung verhaftete Kanonistik - von den Fragen der Zeit ab. Die Kirche ist nicht nur dieser Welt gegenüber, sie ist auch von dieser Welt!

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Natürlich kann die Lehre Ivos, insbesondere können einzelne Beispiele, nicht einfach in unsere heutige Zeit übertragen werden. Aber in der Grundtendenz, im Sinne eines "esprit des lois" ist Ivos Theorie der Anwendung und Interpretation des kanonischen Rechtes immer noch aktuell.

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Meines Erachtens wäre es wichtig, nunmehr nochmals Ivos Auffassung von der Trennbarkeit einer Ehe zu untersuchen. Hier hat ja schon George Duby deutlich gezeigt, daß Ivo eine rigoristischere Position eingenommen hat. In den Quellen hat er eben die Aussage gefunden, daß der Ehebruch eher den immobilen Gesetzen zuzuordnen ist. Mit der Übernahme der oikonomia-Praxis in seinen Dispensbegriff müßte er allerdings auch die andere Tradition der Ostkirche zumindest gekannt haben. Das Pikante an der Sache ist, daß er ja am Anfang der bis heute üblichen Praxis der Nichtigerklärung steht. Wenn man allerdings berücksichtigt, daß man in dieser Zeit ja noch nicht so scharf zwischen Nichtigkeit und Auflösung, wie heute, unterscheiden konnte, steht Ivo vielleicht auch für eine weniger rigoristische Praxis der Nichtigerklärung.

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Das Buch ist mit einem Vorwort des Meisters der französischen historischen Kanonistik, Jean Gaudemet, versehen. Es ist der erste Band einer neuen Reihe, der "Sources canoniques", die von Oliviér Échappé und Jean Werckmeister herausgegeben werden. Es ist durch einen lateinischen und französischen Index gut erschlossen.

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Das Buch regt dazu an, die theologischen Wurzeln des Kirchenrechtes, seine Funktion und seine Anwendung, wieder einmal neu zu überdenken. Ist es richtig, mit der bisherigen Praxis des Nichtigkeitsverfahrens so weiter zu verfahren, oder wäre es nicht notwendig, auch in diesem Bereich auf die Oikonomia-Dispens-Praxis zurückzugreifen? Das Werk ist jedem zu empfehlen, der sich mit den Grundlagen des Kirchenrechts befaßt. Es sollte auch keiner deutschen theologischen Bibliothek fehlen. Man würde sich eine deutsche Übersetzung des Prologs wünschen.

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Richard Puza