Am 20. September 2000 verhandelt der Zweite Senat des BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde (Vb) der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Dabei geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts zuzuerkennen ist.
1. Der Körperschaftsstatus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet die individuelle und kollektive Religionsfreiheit. Regelungen über die Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften enthalten die durch Art. 140 GG zum Bestandteil des GG erklärten Art. 136 bis 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung. Von besonderer Bedeutung für das vorliegende Verfahren ist Art. 137 Abs. 5 WRV (s. Anlage). Der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts vermittelt den korporierten Religionsgesellschaften bestimmte spezifisch öffentlich-rechtliche Befugnisse. Er verleiht insbesondere das Recht, von den Mitgliedern Steuern zu erheben. Weiterhin gehört dazu die Organisationsgewalt, d.h. die Befugnis zur Bildung öffentlich-rechtlicher Untergliederungen und weiterer Institutionen mit Rechtsfähigkeit, wie etwa Anstalten und Stiftungen. Zudem können Körperschaften Beamte beschäftigen und Dienstverhältnisse öffentlich-rechtlicher Natur begründen (Dienstherrenfähigkeit). Sie können eigenes Recht setzen (Autonomie) und durch Widmung kirchliche und öffentliche Sachen schaffen (Widmungsbefugnis). Das Parochialrecht bewirkt, dass die Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde schlicht durch Wohnsitznahme, etwa durch Zuzug, und nicht durch ausdrücklichen Beitritt des Konfessionsmitglieds begründet wird. Zusätzlich existiert eine Vielzahl an den Kooperationsstatus anknüpfender Einzelbegünstigungen ("Privilegienbündel"). Hierzu gehören u.a. ein besonderer Vollstreckungsschutz, die besondere konkursrechtliche Rangordnung, die Anerkennung als freier Träger nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und im Sozialhilferecht; hinzu treten Befreiungen und Vergünstigungen im Kosten- und Gebührenrecht sowie hinsichtlich der Steuerpflicht. Einige korporierten Religionsgemeinschaften wirken in bestimmten Entscheidungsgremien mit (Bundesprüfstelle, Rundfunk- bzw. Medienräte).
2. Die anerkannten Religionsgemeinschaften In den alten Bundesländern besitzen neben der Römisch-Katholischen Kirche und den in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zusammengefassten Landeskirchen auch viele kleinere Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen den öffentlich-rechtlichen Status: In allen alten Bundesländern anerkannt sind die Evangelisch-Methodistische Kirche, die Neuapostolische Kirche, die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten und die Jüdische Religionsgemeinschaft; in fast allen diesen Ländern die Alt-Katholische Kirche, der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten), die Christengemeinschaft und die Russisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland. In mindestens je einem Land besitzen den Körperschaftsstatus der Bund freier evangelischer Gemeinden, die Heilsarmee in Deutschland, die Europäisch-Festländische Brüder-Unität (Herrnhuter Brüdergemeine), die Vereinigung der Mennoniten-Gemeinden, die selbständigen, nicht der EKD angehörenden Evangelisch-Lutherischen und Reformierten Kirchen, die Christliche Wissenschaft, der Bund freireligiöser Gemeinden, die Deutschen Unitarier, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage (Mormonen), der Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden, die Johannische Kirche in Berlin, die Französische Kirche zu Berlin (Hugenottenkirche), die Evangelisch-Bischöfliche Gemeinde in Hamburg, die Dänische Seemannskirche in Hamburg, die Wallonisch-Niederländische Gemeinde Hanau, die Russisch-Orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat) sowie der Bund für Geistesfreiheit in Bayern und die Freigeistige Landesgemeinschaft Nordrhein-Westfalen. In einzelnen neuen Bundesländern sind die Evangelisch-Methodistische Kirche, die Evangelisch-Reformierte Gemeinde Dresden, die Neuapostolische Kirche, die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten und die Christengemeinschaft anerkannt worden.
3. Die Beschwerdeführerin (Bf) Die Bf ist aus der "Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der DDR" hervorgegangen und hat ihren Sitz in Berlin. Sie untersteht der "Watch Tower Bible und Tract Society of Pennsylvania" in USA. Die Zeugen Jehovas sind seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland aktiv. Als "Internationale Bibelforscher-Vereinigung" wurde die Gemeinschaft 1927 als Verein im Vereinsregister im Amtsgericht Magdeburg eingetragen. Unter dem Nationalsozialismus wurden die Zeugen Jehovas verboten und verfolgt; die Eintragung wurde gelöscht. 1945 folgte eine vereinsrechtliche Neugründung mit Eintragung wiederum beim Amtsgericht Magdeburg. 1950 wurde dieser Verein durch das Innenministerium der DDR verboten. Daraufhin konstituierte sich für den Bereich der damaligen Bundesrepublik die Gemeinschaft unter dem Namen "Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft, Deutscher Zweig e.V." mit Sitz in Selters/Taunus. Nach der Wende, aber noch vor der Wiedervereinigung, sprach der Ministerrat den "Zeugen Jehovas in der DDR" mit Urkunde vom 14. März 1990 die "staatliche Anerkennung" aus. Nach grundlegender Umstrukturierung hat sich die Bf am 14. Oktober 1999 in das Vereinsregister beim Amtsgericht Charlottenburg in Berlin eintragen lassen. Ihr Tätigkeitsbereich ist nunmehr ganz Deutschland. Sie ist die geistliche aufsichtsführende Körperschaft aller Zeugen Jehovas in Deutschland. Weltweit gehörten den Zeugen Jehovas 1993 ca. 4,4 Millionen Mitglieder in fast allen Staaten der Erde an. In Deutschland zählte man rund 160 Tausend Mitglieder.
4. Die Ausgangsverfahren Im Oktober 1990 bat die Bf den Magistrat und den Senat von Berlin um Bestätigung ihrer Rechtsstellung entsprechend der durch die DDR 1990 ausgesprochenen Anerkennung. Hilfsweise beantragte sie die Verleihung der Körperschaftsrechte gemäß Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV. Der ursprüngliche Hauptantrag blieb in allen Instanzen erfolglos. Das Land Berlin wies auch den Hilfsantrag 1993 ab. Das Verwaltungsgericht Berlin verpflichtete das Land, der Bf die Rechtsstellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts im Land Berlin zu verleihen. Das Oberverwaltungsgericht Berlin bestätigte diese Entscheidung 1995. Auf die Revision des Landes hin hob das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Urteil vom 26. Juni 1997 die verwaltungsgerichtlichen Urteile auf. Dabei ließ es offen, ob die Bf die - ungeschriebene, aber allgemein anerkannte - Voraussetzung der "Rechtstreue" erfülle. Insoweit waren Vorwürfe erhoben worden, die Bf halte austrittswillige Mitglieder zwangsweise oder sonst mit unlauteren Mitteln in ihrer Gemeinschaft fest und beeinträchtige durch ihre Erziehungsgrundsätze und -praktiken das grundrechtlich geschützte Kindeswohl. Dies könne dahinstehen, weil der Anspruch auf Verleihung der Korporationsrechte an einem anderen, durch den Sinn und Zweck des Korporationsstatus vorgegebenen Grunde scheitere: Von einer Religionsgemeinschaft, die mit ihrem Antrag auf Verleihung der Korporationsrechte die Nähe zum Staat suche und dessen spezifische rechtliche Gestaltungsformen und Machtmittel für ihre Zwecke in Anspruch nehmen wolle, könne erwartet werden, dass sie die Grundlagen der staatlichen Existenz nicht prinzipiell in Frage stelle. Die Bf sei dem Staatswesen gegenüber zwar grundsätzlich positiv eingestellt, lehne aber prinzipiell die Teilnahme an staatlichen Wahlen ab. Diese wie auch die Ablehnung des Wehr- und des Ersatzdienstes seien Ausdruck eines strikt zu befolgenden Glaubensgebotes. Damit setze sich die Bf in einen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Widerspruch zu dem für die staatliche Ordnung im Bund und in den Ländern konstitutiven Demokratieprinzip, das zum unantastbaren Kernbestand der Verfassung gehöre. Die Bf schwäche zwangsläufig in dem Umfang, in dem sie auf das Wahlverhalten der Bürger Einfluss nehme oder künftig gewinne, die Legitimationsbasis, auf die der Staat für die Ausübung der Staatsgewalt - einschließlich der Übertragung dieser Gewalt an Private - angewiesen ist. Da sie die aus dem Demokratieprinzip folgenden legitimen Ansprüche des Staats an seine Bürger nicht anerkenne, könne sie nicht verlangen, von ihm als Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit als sein Kooperationspartner anerkannt zu werden. Dabei spiele es keine Rolle, dass in Deutschland keine Rechtspflicht zur Beteiligung an Parlamentswahlen bestehe. Die Verfassung erlege allen Bürgern die Verantwortung auf, ihr Recht auch tatsächlich auszuüben. Die Bf verkenne die Bedeutung des Art. 4 GG, wenn sie meine, ihre Einstellung zu den Wahlen sei unmittelbarer Ausfluss ihrer grundrechtlich geschützten Religionsfreiheit und dürfe daher nicht mit Rechtsfolgen zu ihren Lasten verknüpft werden. Der durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete Freiraum bleibe einer Religionsgemeinschaft mit wie ohne Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts uneingeschränkt erhalten. 5. Die Verfassungsbeschwerde Mit ihrer Vb rügt die Bf die Verletzung der Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3, 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV. Aus der Wechselwirkung zwischen Art. 4 GG und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 WRV folge, dass jeder Verstoß bei der Entscheidung über einen Antrag auf Verleihung der Körperschaftsrechte gleichzeitig zu einer Verletzung des Grundrechts der antragstellenden Religionsgesellschaft führe. Es sei Teil des Schutzes der religiösen Vereinigungsfreiheit, dass eine Religionsgesellschaft, wenn sie die Verleihungsvoraussetzungen erfülle, frei unter den angebotenen Organisationformen wählen könne. Ihre Vb sei deshalb zulässig; dies im übrigen auch wegen einer Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Paritätsgebot. In der Sache stützt die Bf ihre Vb u.a. darauf, dass sie alle geschriebenen Voraussetzungen für die Verleihung des Körperschaftsstatus und die ungeschriebene Voraussetzung der "Rechtstreue" erfülle. Die Entwicklung einer weiteren ungeschriebenen Voraussetzung "Staatsloyalität" durch das BVerwG sei unzulässig. Damit werde nicht nur ein grundsätzlich positives Staatsverständnis und eine vorbehaltlose Hinnahme der Ergebnisse des demokratischen Prozesses gefordert, sondern darüber hinaus die Bejahung der aktiven Teilnahme am demokratischen Prozess. Dies sei aber aus dem Korporationsstatus nicht abzuleiten. Ein solcher begründe nicht eine besondere "Nähe zum Staat", sondern sei Ausdruck staatlicher Grundrechtsförderung. Die Entscheidung der Zeugen Jehovas, nicht an den Wahlen teilzunehmen, sei nicht Ausdruck mangelnder Loyalität gegenüber dem Staat. Sie sei religiös motiviert. Zu beachten sei auch, dass die von den Zeugen Jehovas praktizierte "gewisse Weltabkehr" und Zurückhaltung gegenüber jedem Staat die Gemeinschaft vor jeder Verstrickung, insbesondere in die zwei Gewaltherrschaften der jüngeren deutschen Vergangenheit, bewahrt, ihnen aber gleichzeitig vielfältige Verfolgung eingetragen habe. Das BVerwG interpretiere das Demokratieprinzip in einer an die Gesellschaft gerichtete Forderung auf Partizipation um. Es bestehe die Gefahr, dass auch die Übereinstimmung des Lehrgebäudes und der religiösen Verhaltenserwartungen der Bf mit weiteren Verfassungsgrundsätzen gefordert werde. In dem Verfahren haben die Länder Bayern und Berlin sowie die Bundesregierung Stellung genommen. Das Land Berlin ist dem Verfahren beigetreten.
Az. - 2 BvR 1500/97 - Karlsruhe, den 1. September 2000
Art. 137 WRV (1) Es besteht keine Staatskirche. (2) Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluss von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen. (3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. (4) Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts. (5) Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verbande zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. (6) Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben. (7) Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. (8) Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, liegt diese der Landesgesetzgebung ob.