Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 64 vom 02.09.2015
Verfassungsbeschwerde gegen "Dritten Weg" im kirchlichen Arbeitsrecht unzulässig
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen zum sogenannten „Dritten Weg“ im kirchlichen Arbeitsrecht wegen Unzulässigkeit verworfen. Die Verfassungsbeschwerde war von einer Gewerkschaft eingelegt worden, die vor dem Bundesarbeitsgericht zwar obsiegt hatte, sich aber durch die Urteilsgründe beschwert sah. Der Gewerkschaft fehlt die erforderliche Beschwerdebefugnis. Sie ist weder durch den Urteilstenor beschwert noch folgt ausnahmsweise aus den Urteilsgründen, dass sie gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten betroffen ist.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Nach dem „Dritten Weg“ werden die Arbeitsvertragsbedingungen weder einseitig durch die kirchlichen Dienstgeber („Erster Weg“) noch durch Tarifverträge („Zweiter Weg“) festgelegt, sondern durch eine Arbeitsrechtliche Kommission. Sie ist ein durch Kirchengesetz geschaffenes Gremium, das paritätisch mit Vertretern von Dienstgebern und Dienstnehmern besetzt ist. Ihre Aufgabe liegt darin, Normen zu schaffen, die Abschluss, Inhalt und Beendigung des Einzelarbeitsverhältnisses regeln. Kommt in der Arbeitsrechtlichen Kommission kein Beschluss zustande, so wird ein ebenfalls paritätisch zusammengesetzter Schlichtungsausschuss mit der Angelegenheit befasst. Dieser entscheidet abschließend. Streiks und Aussperrung sind ausgeschlossen.
Die Beschwerdeführerin ist eine Gewerkschaft. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens sind zwei evangelische Landeskirchen sowie sieben Einrichtungen der Diakonie. Im Ausgangsverfahren begehrten sie die Verpflichtung der Beschwerdeführerin, zukünftig Streiks und Streikaufrufe in Einrichtungen der Klägerinnen zu unterlassen. Ein im Wesentlichen stattgebendes Urteil des Arbeitsgerichts hob das Landesarbeitsgericht auf und wies die Klage insgesamt ab. Die Revision der Klägerinnen blieb ohne Erfolg. Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die fachgerichtlichen Entscheidungen, insbesondere gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts. Sie sei zwar nicht durch den Tenor, jedoch durch die Entscheidungsgründe beschwert. Aus diesen ergebe sich für den vorliegenden Fall insbesondere, dass gewerkschaftliche Streiks mit Tarifbezug das kirchliche Selbstbestimmungsrecht in rechtswidriger Weise beeinträchtigten und solche ohne tarifliches Regelungsziel generell rechtswidrig seien.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
1. Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt die Behauptung des Beschwerdeführers voraus, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein (sogenannte Beschwerdebefugnis, vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG sowie § 90 Abs. 1 BVerfGG).
a) Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, kann sich die Beschwer in aller Regel nur aus dem Tenor der Entscheidung ergeben; er allein bestimmt verbindlich, welche Rechtsfolgen aufgrund des festgestellten Sachverhalts eintreten. Erforderlich ist eine Beschwer im Rechtssinne; eine faktische Beschwer allein genügt nicht. Rechtsausführungen sowie nachteilige oder als nachteilig empfundene Ausführungen in den Gründen einer Entscheidung allein begründen keine Beschwer.
b) Verfassungsbeschwerden gegen die Gründe einer gerichtlichen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht bislang nur in eng begrenzten Ausnahmefällen für möglich gehalten. Diese sind hier nicht einschlägig.
c) Um beschwerdebefugt zu sein, muss ein Beschwerdeführer behaupten können, selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem Grundrecht oder gleichgestellten Recht verletzt zu sein. Bei Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen ist dies regelmäßig der Fall und wird daher in der Regel nicht näher geprüft. Eine Prüfung der eigenen, gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffenheit ist jedoch in Sonderfällen angezeigt, etwa wenn sich die Beschwer - wie vorliegend - aus anderen Umständen als dem für den Beschwerdeführer eigentlich günstigen Tenor ergeben soll.
Gegenwärtige Betroffenheit ist das Abgrenzungskriterium gegenüber zukünftigen Beeinträchtigungen. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem die Verfassungsbeschwerde erhoben wird. Gegenwärtigkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn eine angegriffene Vorschrift auf die Rechtsstellung des Beschwerdeführers aktuell und nicht nur potentiell einwirkt, wenn das Gesetz die Normadressaten mit Blick auf seine künftig eintretende Wirkung zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder wenn klar abzusehen ist, dass und wie der Beschwerdeführer in der Zukunft von der Regelung betroffen sein wird.
Unmittelbarkeit setzt voraus, dass die Einwirkung auf die Rechtsstellung des Betroffenen nicht erst durch einen weiteren Akt bewirkt wird. Die Voraussetzung der Unmittelbarkeit dient zudem dazu, dem Bundesverfassungsgericht die Fallanschauung der Fachgerichte zu vermitteln. Sie ist damit auch eine Frage der Zumutbarkeit der vorherigen Durchführung eines fachgerichtlichen Verfahrens, innerhalb dessen die Verfassungsmäßigkeit einer Norm inzident geprüft werden kann.
Soweit das Bundesverfassungsgericht Grundsätze zur Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit anhand von Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsnormen entwickelt hat, gelten diese auch für Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen.
2. Die Beschwerdeführerin ist nach diesen Maßstäben nicht beschwerdebefugt.
a) Nach dem Grundsatz, dass sich bei Verfassungsbeschwerden gegen eine gerichtliche Entscheidung die Beschwer in aller Regel nur aus dem Tenor der Entscheidung ergeben kann, fehlt es an einer Beschwer der Beschwerdeführerin. Die gegen sie gerichtete Klage ist in vollem Umfang abgewiesen worden.
b) Die Beschwerdeführerin ist nicht ausnahmsweise durch die Gründe der angegriffenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gegenwärtig und unmittelbar beschwert.
aa) Eine gegenwärtige Beschwer folgt entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht daraus, dass das Bundesarbeitsgericht nicht nur geschriebenes Recht angewandt, sondern das im Wesentlichen durch die Rechtsprechung geprägte Arbeitskampfrecht richterrechtlich weiterentwickelt hat. Damit hat das Bundesarbeitsgericht nicht Recht gesetzt, das für die Beschwerdeführerin zukünftig verbindlich wäre. Die Fachgerichte sind an durch die Rechtsprechung entwickeltes Recht nicht in gleicher Weise gebunden wie an Gesetze. Nach deutschem Recht gibt es grundsätzlich keine Präjudizienbindung.
Eine gegenwärtige Beschwer ergibt sich auch nicht daraus, dass sich die Beschwerdeführerin mit Blick auf künftige Streiks und Streikaufrufe dem Risiko ausgesetzt sieht, von kirchlichen Einrichtungen auf Unterlassung oder Schadensersatz in Anspruch genommen zu werden. Soweit die Beschwerdeführerin behauptet, ihr sei eine verlässliche Planung gewerkschaftlicher Politik nicht möglich, bleibt offen, zu welchen irreversiblen Dispositionen sie genötigt sein soll. Jedes Gesetz und jeder von einem Gericht entwickelte Rechtssatz, der einem Beteiligten Handlungsoptionen eröffnet, kann für andere Beteiligte mit Ungewissheiten und Unsicherheiten verbunden sein. Dies führt jedoch nicht dazu, dagegen Verfassungsbeschwerde erheben zu können, noch bevor fachgerichtlich entschieden ist, ob ordnungsgemäß von den Rechten Gebrauch gemacht wurde.
Die vom Bundesarbeitsgericht formulierten Anforderungen an den „Dritten Weg“ führen schließlich nicht dazu, dass klar abzusehen wäre, dass und wie die Beschwerdeführerin zukünftig betroffen ist. Wie die Vorgaben des Bundesarbeitsgerichts in der konkreten praktischen Gestaltung des „Dritten Weges“ umzusetzen sind oder umgesetzt werden, ist nicht im Detail vorhersehbar. Insbesondere hinsichtlich der organisatorischen Einbindung der Gewerkschaften werden den Kirchen keine detaillierten Vorgaben gemacht.
bb) Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtenen gerichtlichen Entscheidungen und die vom Bundesarbeitsgericht formulierten Anforderungen auch nicht unmittelbar betroffen. Der potentielle Ausschluss des Streikrechts könnte sich vielmehr erst aus kirchenrechtlichen und satzungsmäßigen Regelungen ergeben, setzt also zwingend weitere Maßnahmen der Kirchen und kirchlichen Einrichtungen voraus. Die vorherige Befassung der Fachgerichte ist der Beschwerdeführerin zumutbar und ermöglicht es, dem Bundesverfassungsgericht die Fallanschauung der Fachgerichte hinsichtlich der - inzwischen modifizierten - kirchenrechtlichen Vorschriften zu vermitteln.
Beschluss vom 15. Juli 2015 - 2 BvR 2292/13